Ginge es nach dem Willen von Cem Özdemir, dürften Anbieter von Lebensmitteln, die laut WHO-Kriterien als ungesund gelten, demnächs t zwischen 6 Uhr morgens und 23 Uhr dafür keine Werbung im Fernsehen, Radio oder in der Nähe von Kindergärten und Schulen zeigen. „Die Anbieter bräuchten bloß die Rezepturen solcher Lebensmittel anzupassen“, verteidigte Özdemirs Haus sein Vorhaben.
Die Zuständigkeit des Werbeverbots war von Anfang an umstritten Die Rundfunkkommission der Länder stellte die Kompetenz des Bundes dafür frühzeitig in Frage. Seitdem habe es ein „erstes Gespräch“ gegeben, wie Table.Media von der rheinland-pfälzischen Medienstaatssekretärin Heike Raab erfuhr. Raab leitet die Rundfunkkommission. Die SPD-Politikerin fordert weitere Gespräche mit dem Bund. „Wir Länder halten es für unbedingt erforderlich, zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise die bestehenden Regelungen im Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) angepasst werden müssen.“ Der europäische Rechtsrahmen wie auch die Regelung im Staatsvertrag sähen in diesem Bereich eine Stärkung der „Selbstregulierung“ vor.
Das Ziel der Übergewichtsregulierung von Kindern und mehr gesunde Ernährung könne man im übrigen auch anders erreichen, so Raab. Werbung sei nur ein Punkt. „Sport und Bewegung, Aufklärungskampagnen und gesundes Schulessen sind weitere Aspekte.“
Auch die FDP hat Vorbehalte gegen den Entwurf des Koalitionspartners. Der Gesetzentwurf gehe über die Vereinbarung im Koalitionsvertrag hinaus, moniert die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Carina Konrad. Sie stört sich einerseits an der Dauer des Werbeverbots von 6 Uhr bis 23 Uhr, „weil rein theoretisch die Möglichkeit besteht, dass Kinder zusehen könnten“. Darüber hinaus habe sich das Ministerium bei der Auswahl der Produkte an den WHO-Kriterien orientiert, was so nicht im Koalitionsvertrag vereinbart worden sei. Konrad: „Das WHO-Modell verbietet Werbung bei Überschreitung eines Bestandteils." Der Koalitionsvertrag gehe aber „von einer Gesamtbetrachtung der Lebensmittel aus".
Susanne Mittag, Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion für Landwirtschaft und Ernährung, stellt sich dagegen hinter Özdemir – und gegen Parteifreundin Raab. „Der Bundeslandwirtschaftsminister erfüllt eine jahrelange Forderung der SPD.“ Ungesunde Ernährung sei ein zentraler Faktor für die Entstehung von Übergewicht, Typ-2-Diabetes und Herzkrankheiten. „Für mich ist die Einschränkung von Werbung ein wichtiger und zentraler Baustein im Maßnahmen-Mix“, so Mittag. Lebensmittelwerbung beeinflusse nachweisbar die Präferenzen, das Kaufverhalten, die Essensauswahl und das Essverhalten von Kindern. Die Prägung des Essverhaltens in den Kinderjahren sei entscheidend für das weitere Leben. Klar sei aber auch: „Wir wollen Süßes nicht verbieten, sondern da, wo es sinnvoll ist, reduzieren.“
FDP-Frau Konrad wiederum hält den ganzen Ansatz für falsch: „Weniger Werbung für Süßigkeiten führt nicht automatisch zu weniger Konsum." Das belegten Versuche in anderen Ländern. Hilfreich seien nicht Verbote, sondern Angebote. Dass in Kitas und Schulkantinen lecker und gesund gekocht wird, sei viel wichtiger. Die Liberale: „Tief in die Rechte der Werbetreibenden einzugreifen, halte ich für plakative Schaufensterpolitik, die freilich auch tief in die Finanzierung privater und öffentlicher Sender eingreifen würde. Das werden wir als FDP nicht zulassen.“
Die Bruttowerbeinvestitionen für Lebensmittelwerbung in den vom geplanten Verbot betroffenen Medien lagen 2021 lautWirtschaftswoche bei 3,7 Milliarden Euro. Nach Berechnungen des Zentralverbandes der Deutschen Werbewirtschaft (ZAW) wären von dieser Summe 88 Prozent vom Werbeverbot betroffen. Den Medien entgingen künftig jedes Jahr Bruttowerbeeinnahmen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro.
Eine neue Studie der Münchner LMU-Universität in Zusammenarbeit mit der Deutschen Allianz für Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) unterstützt das WHO-Nährwertmodell als Grundlage für Özdemirs Gesetzentwurf. „ Die geplanten Regelungen hätten keinesfalls ein Totalwerbeverbot für Lebensmittel zur Folge. Werbung für Gesundes wäre weiterhin uneingeschränkt erlaubt und Werbung für Ungesundes würde wirksam eingedämmt“, sagt Barbara Bitzer, Sprecherin der DANK und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Sie appelliert an Özdemir, „an dem Vorhaben festzuhalten – und an die FDP, sich nicht vor den Karren der Werbeindustrie spannen zu lassen ".