Table.Media: Herr Lindner, Sie waren deutscher Botschafter in Indien bis Mitte letzten Jahres. Warum tut sich die Regierung Modi so schwer mit einer Abgrenzung zu Russland?
Walter Lindner: Sympathie für Vladimir Putin oder dessen Angriffskrieg ist das nicht. Aber beide Länder verbindet eine lange Geschichte. Schon Gandhi hatte einen guten Kontakt zu Moskau. In den 70er Jahren, als sich Bangladesh mit Indiens Hilfe von Pakistan löste, war die Sowjetunion der einzige Unterstützer Indiens. Der Westen stand geschlossen hinter Pakistan. Das ist etwas, das in Indien nie vergessen wurde. Die Sowjetunion hat Waffen geliefert, die sonst niemand lieferte. Dazu kommt die geografische Nähe zu Pakistan und vor allem zu China, die Indien immer zu einem Balanceakt zwingt. Sich zwischen China, Russland und dem Westen durchzumanövrieren, ist nicht leicht.
Und das erklärt die Zurückhaltung?
Indien ist ein komplexes, einzigartiges Land: 1,4 Milliarden Einwohner, zehn Weltreligionen, föderal organisiert, Hunderte von Sprachen,Spiritualität allerorten, eine 7000-jährige Geschichte – das Land ist unglaublich vielschichtig, und es braucht Zeit, das zu erkennen und zu durchdringen.
Soll das heißen, wir nehmen das Land nicht richtig wahr?
Eindeutig ja! Indien ist abgesehen von seiner Größe, anders als etwa China, eine Demokratie mit freier Meinungsäußerung, Gewerkschaften, Pressefreiheit und einer lebendigen Debattenkultur. Die Inder kriegen Wahlen organisiert, haben das Impfen gut hinbekommen – allein das sind schon große Leistungen. Angela Merkel war immer fasziniert von diesem Land. Dazu kommt das Bevölkerungswachstum, 20 Millionen Menschen kommen jedes Jahr hinzu. Mit dem entsprechenden Bedarf an Schulen, Sozialleistungen, Infrastruktur – eine enorme Herausforderung. Das ist uns in Europa so nicht bewusst.
Gerade von einer Demokratie könnte man doch Klartext erwarten: Der Angreifer in diesem Krieg ist klar definiert.
Indien lässt sich nicht in die üblichen Kategorien einordnen. Erstens haben wir es mit einer selbstbewussten Gesellschaft zu tun. Zweitens will man es sich nicht mit den Russen verscherzen. Wenn außerdem aus den Ländern des Westens Leute mit erhobenem Zeigefinger kommen, erinnert man sich sofort an die Kolonialzeiten, und die alten Aversionen sind wieder da. Daraus ergibt sich ein permanent vorsichtiges Taktieren. Die Welterklärer aus dem Westen kommen im Globalen Süden nirgendwo gut an – auch in Indien nicht.
Dass der Krieg auch etwas mit Indien zu tun haben könnte, ist nicht vermittelbar?
Unser westliches Argument ist immer: Das Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen, das Putin brutalst verletzt hat, habe Folgen für die ganze Welt. Es könnte die Blaupause sein für das Vorgehen anderer großer Mächte, die viel näher an Indien dran sind. Das hören sich die Inder auch zustimmend an, sagen aber dann, die Amerikaner waren ja auch im Irak oder Vietnam und Libyen, wo blieb da das Pochen aufs Völkerrecht? Also: Indien ist ein ungemein faszinierendes Land, aber auch ein selbstbewusster, bisweilen ein sperriger Partner. Aber es ist immer der Mühe Wert, sich damit auseinanderzusetzen.
Spielt die geografische Entfernung eine Rolle?
Unbedingt. Für uns ist die Ukraine ganz nahe, und die Bedrohung der Nachbarstaaten ist eine Bedrohung für ganz Europa. Für Indien und viele andere ist das aber weit weg und keine unmittelbare Bedrohung. Wenngleich man natürlich die Auswirkungen der Sanktionen auf die Getreide- und Energiepreise und Lieferketten spürt. Aber man sieht das eher als einen europäischen denn als einen globalen Konflikt an. Und man sagt: Löst das! Es ist euer Konflikt!
Sie sprechen es an – die Preissteigerungen betreffen Indien sehr.
Was Indien immer ins Feld führt: Grenzverletzungen durch China oder Attacken von islamistischen Terroristen in Indien produzieren im Westen auch keine Schlagzeilen. Da gibt’s aus indischer Sicht eine gewisse Ungleichheit. Alles, was in Europa passiert, sollen die Inder ganz wichtig nehmen. Was umgekehrt im indopazifischen Raum stattfindet, interessiert in Europa weniger. Das spürt man auf dem Subkontinent, und deshalb will man sich da auch nicht bevormunden lassen.
Versucht Indien eine Art Äquidistanz zu Russland und den USA?
Das sehe ich so nicht. Die Inder sagen, sie haben ihren eigenen Weg, der sich immer für Gewaltfreiheit und Friedensverhandlungen und gegen jede Blockbildung einsetze. Indien ist ein Protagonist des Multilateralismus mit vielen Machtfaktoren und -zentren auf der Welt. Zur alten Bipolarität will niemand zurück. Deshalb hat Premier Narendra Modi gerade beim G20-Außenministertreffen in Neu Delhi versucht, einen Konsens zu retten und nicht alles vom Kriegsthema überschatten und die Welt wieder in zwei Lager spalten zu lassen. Mit bedingtem Erfolg.
Sehen die Inder für sich eine Rolle in dem Konflikt – womöglich als Schlichter?
Die Rolle Indiens ist es, im Sinne von Gandhi für friedliche Lösungen einzutreten. Natürlich sind auch sie hinter verschlossenen Türen nicht glücklich über das, was Putin da angezettelt hat. Aber sie ahnen zugleich: Eine Lösung gibt es nur, wenn der Angreifer Putin Krieg einstellt, oder alle Seiten einer Friedenslösung zustimmen. Außer Appellen zu einem Waffenstillstand und Gesprächen bleibt dann nicht sehr viel. Man wäre bestimmt bereit zu Hilfestellung, aber sieht das im Augenblick als wenig realistisch an.
Wie überzeugen wir Länder wie Indien, Brasilien oder Südafrika von unserem Gesellschaftsmodell und unseren Werten?
Was immer wieder auffällt, gerade auch mir als Diplomat, wie eurozentristisch wir von Deutschland und Europa auf die Welt schauen. Wir glauben, wie wir ticken, ticken alle. Aber so ist es nicht. Es ist wishful thinking zu glauben, dass unsere Werte überall geteilt werden. Man muss immer wieder werben und streiten – aber nicht mit dem verinnerlichten Eurozentrismus, mit dem wir das tun. Wir müssen mehr auf die einzelnen Länder, ihre Geschichte und ihre regionalen Besonderheiten eingehen. Es bleibt einfach viel Arbeit, manchmal auch mühsame Arbeit, um andere Weltregionen von unserem Wertemodell zu überzeugen.
Der Umgang mit Covid hat uns im globalen Süden auch nicht sympathischer gemacht.
Das ist allerdings richtig. Es gab echt holprige Momente. So haben die Zulassungsverfahren für indische Impfstoffe sehr lange gedauert, während europäische Impfstoffe in Indien zugelassen waren. So was kommt nicht gut an. Heute ist man auf beiden Seiten schlauer. In Europa hat man gemerkt, dass die in Indien produzierte Ware gut ist; und Indien hat eingesehen, dass gute Qualität und eine weltweite Kontrolle von Impfstoffen auch im eigenen Interesse sind.
Wären wir überzeugender, wenn wir uns nicht in unseren eigenen Widersprüchen verfangen würden? Wir schimpfen gerne über Autokraten, aber wenn es uns passt, hofieren wir sie ...
... in Indien und anderswo im Globalen Süden sehen sie, dass viele Länder des Nordens eine koloniale Vergangenheit haben und Deutschland dazu das tiefschwarze Kapitel des Holocausts. Sie wissen also, dass unsere europäischen Werte auch nicht immer wegweisend waren. Dass ausgerechnet wir jetzt mit moralischen Messlatten kommen, kommt nicht bei jedem gut an.
Was heißt das für Deutschland?
Wir dürfen nicht immer von uns ausgehen. Die Wahrnehmung von Europa ist jenseits von Europa nicht konfliktfrei. Umso mehr müssen wir immer wieder – und zwar nicht postkolonial oder mit moralischem Zeigefinger – erklären, für was wir stehen und warum wir handeln, wie wir handeln. Dass wir Lehren gezogen haben aus der eigenen Geschichte und dass wir es deshalb nun besser machen wollen. Aber das ist ein dickes Brett.
Wir sind eine der größten Exportnationen der Welt. Warum ist unser Blick so verengt?
Politiker haben oft andere Prioritäten: Innenpolitik, oder etwa der Zusammenhalt in Europa, das deutsch-amerikanische Verhältnis, bis vor Kurzem der Brexit oder das Verhältnis zu Russland. Wir haben einen Hang zur Nabelschau. Es ist Aufgabe des Außenamtes und auch der Botschaften, bei uns für die Sichtweisen von über 190 Ländern des Globus zu werben, um ein umfassendes Bild zu bekommen.