Analyse
Erscheinungsdatum: 10. November 2024

Von Rente bis Bürgergeld: Was das Ampel-Aus für die Sozialpolitik bedeutet

Das Scheitern der Koalition hat Auswirkungen auf wichtige Vorhaben wie das Rentenpaket II und das Tariftreuegesetz. Auch das Bürgergeld ist betroffen.

Dass sich im Bundestag vor der Neuwahl noch eine Mehrheit für die großen Sozialpolitik-Pläne der Regierung findet, gilt als unwahrscheinlich. Die Union hat etwa schon ausgeschlossen, für das Rentenpaket II zu stimmen. Zuvor hatte es Olaf Scholz zu den Themen gezählt, die „keinerlei Aufschub dulden“. Unmittelbare Folgen hat das für das Generationenkapital: Ohne Gesetz kann die dazugehörige Stiftung nicht mehr in diesem Jahr gegründet werden. Und ohne Stiftung können die 12 Milliarden Euro, die im Haushalt 2024 eingeplant sind, nicht angelegt werden.

Die anderen Aspekte des Rentenpakets sind weniger zeitkritisch. Bis Ende 2025 gilt schon jetzt, dass das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinken und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen darf. Das Gesetz sah vor, das Niveau bis Mitte 2040 zu halten – und dafür in Kauf zu nehmen, dass der Satz auf mehr als 22 Prozent steigt. Zudem sollte die sogenannte Nachhaltigkeitsrücklage, die unerwartete finanzielle Schwankungen ausgleichen soll, von 0,2 auf 0,3 Monatsausgaben erhöht werden. Genauso vorgesehen war eine Reduzierung des Bundeszuschusses, der derzeit mehr als ein Fünftel der Jahreseinnahmen ausmacht.

Neben dem zweiten war ursprünglich noch ein drittes Rentenpaket geplant, das eine Absicherungspflicht für Selbstständige beinhaltete. Dazu kommt die Reform der privaten Altersvorsorge und das Zweite Betriebsrentenstärkungsgesetz. All das dürfte nun erst einmal nicht kommen, genauso wie die in der sogenannten Wachstumsinitiative enthaltene Rentenaufschubprämie und angedachte Regelungen „zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung“.

Ebenso betroffen ist das Tariftreuegesetz, das wie das Rentenpaket II schon lange auf sich warten lässt. Den Entwurf dazu veröffentlichte das BMAS erst Ende Oktober. Durch das Kabinett sollte es ursprünglich am Tag des Ampel-Aus. Beide Gesetze galten als potenzielle Sollbruchstellen der Koalition. Die Union wird auch hier nicht mitmachen und befürchtet – wie die FDP – zu viel Bürokratie. Noch Ende September sprach Julia Klöckner als wirtschaftspolitische Sprecherin der Fraktion von einem „Tarifzwangsgesetz, das vor allem kleine und mittlere Unternehmen belastet“.

Dass es in diesem Jahr keinen Bundeshaushalt mehr geben wird, erhöht darüber hinaus die Unsicherheit für die Jobcenter. Ihnen drohten Kürzungen in Höhe von gut einer Milliarde Euro. Berechnet man die Verlagerung der Zuständigkeit für Reha und Fortbildung von den steuerfinanzierten Jobcentern auf die beitragsfinanzierten Arbeitsagenturen ein, sind es immer noch mehr als 300 Millionen Euro. Bei den Arbeitsagenturen auf der anderen Seite standen mit dem SGB-III-Modernisierungsgesetz eine Anpassung und der Ausbau von Förderinstrumenten an.

Die Bundesagentur für Arbeit rechnete mit erheblichem Mehraufwand und sieht sich derzeit ohnehin an der Belastungsgrenze. Sie dürfte daher nicht unglücklich sein, wenn das Gesetz erst einmal nicht verabschiedet wird. Bleibt es dabei, fallen auch die geplanten Verschärfungen beim Bürgergeld zunächst aus. Die BA jedenfalls hat ohnehin zu tun: Am 15. November berät sie ihren eigenen Haushalt, der dann noch von der Bundesregierung genehmigt werden muss.

Bis auf Weiteres nicht vorangehen wird es voraussichtlich auch bei der im Koalitionsvertrag angekündigten Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes. Hintergrund ist das Bestreben nach mehr Barrierefreiheit – einem Bereich, in dem Deutschland massiv hinterherhinkt. Die Ampel-Koalition wollte private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen verpflichten, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Deutschland schon mehrfach dazu aufgefordert, wie der Deutsche Behindertenrat in einem offenen Brief an die Bundesregierung Mitte September betonte. Aber das Bundesjustizministerium blockierte zuletzt.

Seine Blockade aufgegeben hatte das BMJ dagegen bei der Mietpreisbremse. Sie sollte zumindest in abgeschwächter Form kommen. Das Gesetz war politisch mit dem Streit um das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren als Alternative zur Vorratsdatenspeicherung verknüpft gewesen. Daher dürfte es ein Beispiel dafür sein, was Scholz Christian Lindner nach seiner Entlassung vorwarf: dass er politische Vorhaben zu oft „sachfremd blockiert“ habe.

Zwei weitere Gesetze, die sich vorerst erledigt haben dürften, haben mit der Arbeitswelt zu tun. Das eine betrifft den sogenannten Beschäftigtendatenschutz, also die Frage, was Arbeitgeber in Sachen Überwachung dürfen und wo KI eingesetzt werden darf. Das andere dreht sich um die Arbeitszeiterfassung. Das Bundesarbeitsgericht hatte 2022 wie schon der Europäische Gerichtshof 2019 entschieden, dass es sie geben muss.

Das BMAS legte dann im April 2023 einen Entwurf vor. Danach hörte man lange nichts. Die FDP drängte – wie zumindest im Ansatz auch vereinbart im Koalitionsvertrag – auf eine Flexibilisierung, wie sie auch die Union will. Geeinigt hatten sich die Ampel-Parteien auf die „begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“. Die Liberalen wollten eine Wochenhöchstarbeitszeit, was mit der SPD nicht zu machen war.

Wegen der Uneinigkeit sah das BMAS keinen gesetzgeberischen Bedarf, zumal die Zeiterfassung durch das Gerichtsurteil schon geltendes Recht sei. Ende Oktober sagte der Arbeitsminister aber, er wolle im November einen Vorschlag vorlegen. Wie es mit diesem und weiteren Themen im Zuständigkeitsbereich seines Hauses weitergeht, wird am 13. November im Bundestag diskutiert. Nach der Regierungserklärung des Kanzlers steht eine Befragung von Hubertus Heil auf der Tagesordnung.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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