Die Ampel-Koalition blickt an diesem Dienstag wieder einmal gebannt nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht könnte die Reform des Wahlrechts kippen oder Nachbesserungen anmahnen. Aus Regierungskreisen heißt es, man erwarte, dass bezüglich der geplanten Abschaffung der Grundmandatsklausel Korrekturen angemahnt werden könnten. Man wolle im Fall eines kritischen Urteils auch erneut auf die Union zugehen, sagte einer der Ampel-Verhandler.
Die Änderung des Bundeswahlgesetzes soll den Bundestag dauerhaft auf 630 Abgeordnete verkleinern. Im Frühjahr 2023 hatte die Bundesregierung die Reform gegen den Widerstand der Union durchs Parlament gebracht. Das Gesetz sieht unter anderem vor, die 299 Wahlkreise beizubehalten, aber die Grundmandatsklausel sowie Ausgleichs- und Überhangmandate abzuschaffen.
Der Bundestag ist aktuell das größte demokratische Parlament der Welt. In den vergangenen Wahlperioden war er gerade wegen des in Deutschland einmaligen Zusammenspiels von Erst- und Zweitstimmen und den Überhang- und Ausgleichsmandaten auf aktuell 733 Sitze angewachsen. Gesetzlich vorgesehen sind 598. Mit der Reform könnte es im Extremfall dazu kommen, dass der Gewinner eines Direktmandats nicht in den Bundestag einzieht, weil das Zweitstimmenergebnis seiner Partei dies nicht erlaubt.
Knackpunkt könnte die Abschaffung der Grundmandatsklausel sein, heißt es. Bis zur Novellierung konnten Parteien, die drei Direktmandate errangen, in den Bundestag einziehen, auch wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten hatten. Mit der Reform könnte es nun theoretisch dazu kommen, dass die CSU bei der Bundestagswahl in Bayern alle Direktmandate gewinnt und dennoch nicht in den Bundestag einzieht, weil sie bei den Zweitstimmen unter 5 Prozent liegt. Die Linke wäre mit der Neuregelung trotz des Gewinns von drei Direktmandaten im aktuellen Bundestag nicht vertreten.
Juristen halten das für verfassungswidrig. „Man kann die Grundmandatsklausel nicht einfach im System streichen“, sagt etwa Philipp Austermann, Staatsrechtler an der Hochschule für öffentliche Verwaltung. „Es widerspricht dem Gleichheits- und Demokratieprinzip, wenn Direktmandate einfach gekappt werden.“ Dann hätte die Ampel die Direktmandate ganz abschaffen müssen.
Der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers hält die Reform für verfassungskonform. Der Maßstab sei bei einem „dominanten Verhältniswahlrecht“, wie es in Deutschland gelte, die Zweitstimme. Die Erststimme sei nur „ein Mittel der Vorauswahl“. Seit den 1950er Jahren habe es keinen Direktkandidaten gegeben, der ohne seine Parteizugehörigkeit ins Parlament gekommen sei. Das Problem sei eher, dass durch die Überhang- und Ausgleichsmandate schon jetzt der Anteil der direkt gewählten Abgeordneten auf 40 Prozent gesunken sei.
In der Ampel herrscht Zweckoptimismus: Till Steffen, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, sagte Table.Briefings: „Aus unserer Sicht spricht sehr viel für die Verfassungsmäßigkeit. Das neue Wahlrecht ist fair und einfach: Indem wir die Verhältniswahl stärken und Überhang- und Ausgleichsmandate abschaffen, beenden wir die bisherige Verzerrung der Mehrheitsverhältnisse.“
Ganz sicher sind sich die Koalitionäre nicht. Vorsichtshalber haben sich die Fachpolitiker für eine Schaltkonferenz am Dienstag verabredet. In der zweiten Sitzungswoche nach der Sommerpause könnte man ein verbessertes Gesetz einbringen, heißt es bereits.