Analyse
Erscheinungsdatum: 03. März 2023

Verdi-Chef Frank Werneke: „Das zeigt die Arroganz von Teilen der Wirtschaftselite“

epa10450720 Chairman of the 'ver.di' trade union Frank Werneke delivers a speech during a warning strike of postal service workers near the German public services union 'ver.di' headquarters in Berlin, Germany, 06 February 2023. On the occasion of the ongoing wage dispute, the ver.di trade union called postal workers for a day long warning strike.  EPA-EFE/CLEMENS BILAN
Zwischen Warnstreiks und Forderungen nach einer Beschränkung des Streikrechts: Verdi-Chef Frank Werneke wirft den Arbeitgebern Arroganz und Abgehobenheit vor. Außerdem berichtet er von einem Mitgliederzuwachs durch die Kampagne, wie ihn Verdi bisher nicht kannte.

Berlin.Table: Herr Werneke, BDA-Chef Steffen Kampeter hat „mehr Bock auf Arbeit“ gefordert und sich wie die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) für eine Begrenzung des Streikrechts ausgesprochen. Was antworten Sie ihm?

Frank Werneke: Die Vorstellung von einem angeblichen mangelnden „Bock auf Arbeit“ ist mit Blick auf diejenigen, die zum Beispiel in Krankenhäusern, Kitas oder bei der Post arbeiten, eine bodenlose Frechheit und zeigt die Arroganz und Abgehobenheit von Teilen der Wirtschaftselite. Und wenn ich auf die Streikrecht-Debatte schaue, dann passt das zum Muster von Neoliberalen, Konservativen und ihren Helfern: Wenn Streiks wirken und etwas in Bewegung setzen, reagieren sie mit Forderungen nach Einschränkungen und Verboten.

Wie meinen Sie das?

Das erleben wir derzeit in Großbritannien, wo die Tory-Regierung das Streikrecht noch weiter einschränken will, um die Proteste einzudämmen. In Deutschland hat das Streikrecht Verfassungsrang und wer es beschränken möchte, will ein Grundrecht einschränken. Deshalb setzen wir jedem Versuch in unser Streikrecht einzugreifen, entschiedenen Widerstand entgegen, denn das ist ein Angriff auf die Demokratie.

In letzter Zeit ist viel von einer „neuen Macht der Arbeitnehmer“ die Rede. Ist da was dran?

Gerade die Beschäftigten in Dienstleistungsberufen wie in der Paketzustellung oder an den Supermarkt-Kassen sind wie auch die Kolleg*innen im Gesundheitswesen in der Pandemie als Heldinnen und Helden der Arbeit gefeiert worden. Und jetzt müssen sie erleben, dass es außer warmen Worten dafür wenig geben soll. Das führt zu Frust und Enttäuschung. Gleichzeitig steigt der Handlungsdruck durch die anhaltend hohe Inflation und die damit einhergehenden hohen Preise für Energie und Lebensmittel. Insbesondere die genannten Berufe zeichnet aus, dass die Einkommen dort nicht besonders hoch sind – die Inflation trifft diese Menschen also besonders hart. Außerdem sehe ich ein gestiegenes Selbstbewusstsein, was auch mit einer veränderten Arbeitsmarktsituation zu tun hat: Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die Erpressbarkeit, die viele Jahre lang die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt hat, gibt es in der Form nicht mehr.

Es gibt immer wieder die Kritik, dass sich die Gewerkschaften in den vergangenen Jahren mit zu wenig hätten abspeisen lassen. Ist das der Grund, warum Sie die aktuellen Tarifverhandlungen mit mehr Selbstbewusstsein führen?

Ich bin seit ungefähr 30 Jahren im Geschäft, führe Tarifverhandlungen und kann daher zumindest für Verdi und die Gründungsorganisationen sagen: Uns hat es nie an Selbstbewusstsein oder Entschlossenheit gefehlt, aber wir waren in unterschiedlichen Zeitabschnitten dennoch unterschiedlich erfolgreich. In den Neunziger- und Nullerjahren gab es schwierige tarifpolitische Phasen durch die Massenarbeitslosigkeit, große Privatisierungswellen und Stellenabbau im öffentlichen Dienst. In den Zehnerjahren wurde das Kräfteverhältnis besser, da konnten wir in den von uns vertretenen Bereichen Steigerungen der Einkommen deutlich oberhalb der Preissteigerungsraten durchsetzen. Allerdings war das auch in einer Phase von niedriger Inflation. Jetzt sind wir an einem Punkt, wo die Inflation nach oben geschossen und es kein Selbstläufer ist, sie in Verhandlungen auszugleichen. Das ist ein extrem harter Kampf, den wir aktuell führen. Dabei ist uns wichtig, dass besonders diejenigen berücksichtigt werden, die nicht so hohe Einkommen haben.

Wie erfolgreich ist Ihre Mobilisierung denn?

Wir haben in den ersten beiden Monaten dieses Jahres über 45.000 neue Mitglieder hinzugewonnen. Das ist der größte Mitgliederzuwachs in so kurzer Zeit seit der Gründung von Verdi im Jahr 2001. Wie es mit den Zahlen weitergeht, hängt sicher davon ab, wie die Verhandlungen laufen. Neben der Tarifrunde im öffentlichen Dienst ist auch die bei der Post, wo wir viele Mitglieder gewonnen haben, sehr wichtig für uns. Bis zum 8. März läuft dort noch die Urabstimmung über einen unbefristeten Streik. Und nach dem öffentlichen Dienst – beziehungsweise je nach Länge der Verhandlungen parallel – fängt dann die Tarifrunde im Einzel- und Großhandel an. Davon sind fünf Millionen Beschäftigte betroffen und auch da spielt ein Inflationsausgleich für geringe und mittlere Einkommen eine wichtige Rolle.

Auch in anderen Ländern wird derzeit viel gestreikt, etwa in Großbritannien und Frankreich. Welche Rolle spielt der Arbeitskampf auf europäischer Ebene?

Wir sind eng im Austausch mit den britischen und französischen Gewerkschaften, im Mai findet außerdem der Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Berlin statt. Bei Lichte betrachtet sind die Entwicklungen und Verhältnisse in den Ländern unterschiedlich. Gerade die südeuropäischen Gewerkschaften haben extrem gelitten unter der Austeritätspolitik nach der Finanzmarktkrise. Dort – in Spanien, Italien, Griechenland – berappeln sie sich so langsam wieder. In anderen Ländern wie Belgien und Frankreich ist die Situation besser. Aber die Themen sind überall gleich: Alle sind davon betroffen, dass die Preise steigen, die Löhne nicht ausreichend schnell nachkommen und dadurch Druck auf dem Kessel entsteht.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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