Analyse
Erscheinungsdatum: 26. Juni 2023

VCI-Hauptgeschäftsführer Große Entrup: „Wir müssen uns als Nation den Realitäten stellen“

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Die Wirtschaft klagt immer, sagen die einen. So bedrohlich war es lange nicht, sagen die anderen. Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Chemieverbandes VCI, fordert von der Politik klare Prioritäten und ein besseres Gespür für das, was auf dem Weltmarkt passiert. Viele Unternehmen gehen inzwischen direkt in die Wahlkreise, weil sie das Gefühl haben, in Berlin nicht mehr gehört zu werden.

Herr Große Entrup, die Koalition hat sich monatelang über das Gebäudeenergiegesetz gestritten. Werden in Berlin die falschen Debatten geführt?

Die Gefahr besteht. Vor allem dauern die Debatten zu lang. Die Unternehmen brauchen im großen Umbau jetzt Planungssicherheit, nicht erst in zwei oder vier Jahren. Ja, die Bundesregierung hat einen guten Job gemacht, damit das Land den ersten Winter in dieser Krise gut überstanden hat. Aber jetzt geht es darum, wie wir die Zukunftsfähigkeit der Nation und des Standortes sichern. Die externen Herausforderungen sind noch anspruchsvoller geworden. Entscheidend ist, ob die Politik die Zeichen der Zeit erkennt, oder ob wir uns weiterhin im Kreis drehen.

Was heißt das konkret?

Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Wir erwarten von der Politik jetzt eine klare Priorisierung und ein hohes Tempo in den Maßnahmen statt ideologischer Debatten. Die langwierigen Diskussionen in der Koalition führen dazu, dass immer mehr Unternehmer die Zuversicht verlieren. Im Koalitionsvertrag steht, dass die Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden sollen. Aber es wird weiter diskutiert, jeder kommt mit anderen Ideen. Irgendwann glauben die Unternehmen nicht mehr daran, dass etwas passiert.

Wie adressieren Sie das in Berlin?

Wir führen unendlich viele Gespräche auf allen Ebenen. Und die Unternehmen aus der Branche sprechen die Themen inzwischen direkt in den Wahlkreisen bei den Abgeordneten an: Das sind unsere Überlegungen, das ist die Wirtschaftskraft an diesem Standort, das ist das wichtigste Unternehmen, das sind deine Wähler. Für uns bedeutet der Gang über die Dörfer einen enormen Kraftakt, aber wir merken, dass unsere Botschaften in Berlin sonst nicht ankommen.

Wie akut ist der Vertrauensverlust in der Branche? Investieren die Unternehmen zunehmend woanders?

Den Verantwortlichen muss klar sein: Die Entscheidungen über Investitionen werden jetzt getroffen und nicht irgendwann im Laufe der Legislaturperiode. Große Unternehmen wie BASF sagen bereits, dass sie Produktion in Deutschland stilllegen, wegen der Energiepreise und anderer Themen. Lanxess hat gerade mit einer Gewinnwarnung den Aktienmarkt aufgerüttelt und dies auch mit der Situation hier am Standort begründet. In dieser Situation kommen jetzt US-Bundesstaaten und bieten den Unternehmen an, im Rahmen des Inflation Reduction Act nicht nur die Investitionskosten zu bezahlen, sondern auch die operativen Kosten für die nächsten fünf Jahre, und den Strompreis garantieren sie auch. Da kann kein Unternehmen einfach sagen, Moment mal, wir sind aber ein deutsches Traditionsunternehmen.

Der Bundeswirtschaftsminister will einen subventionierten Industriestrompreis festlegen, der Finanzminister ist dagegen, der Kanzler auch, obwohl er vorher dafür war. Wie gehen Sie damit um?

Wir haben uns als Verband klar positioniert: Wir halten einen Industriestrompreis für richtig, als bekennende Marktwirtschaftler haben wir lange mit uns gerungen, denn wir schreien nicht nach Subventionen. Wir wissen, dass das jemand bezahlen muss – am Ende nämlich die Bürger. Aber wir müssen auch klar sagen, dass wir im internationalen Wettbewerb stehen. Der Strompreis in China liegt bei zwei bis drei Cent, in den USA ähnlich. In Deutschland bei rund 20 Cent. Wir haben auch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten über 40 Prozent höhere Strompreise in Deutschland. Das heißt, als Exportbranche haben wir so keine Chance, zu überleben. Ein Industriestrompreis soll auch nur eine Brücke auf Zeit sein, bis wir hier genügend günstige regenerative Energie produzieren.

Robert Habeck rechnet mit jährlichen Kosten von durchschnittlich vier Milliarden Euro pro Jahr für den Industriestrompreis.

Aus unserer Sicht ist der Industriestrompreis am Ende ein Nullsummenspiel. Die energieintensive Industrie generiert in Deutschland 90 Milliarden an Steuern und Abgaben. Wenn wir davon nur fünf bis zehn Prozent verlieren, dann ist es genau das, was in den öffentlichen Haushalten und den Sozialkassen fehlt. Hinzu kommt: Unsere Unternehmen stehen am Beginn von 90 Prozent der Wertschöpfungsketten in Deutschland. Ohne Chemie zu Beginn ist alles nichts. Wenn unsere Unternehmen gehen, würde ein Dominoeffekt einsetzen.

Ist es überhaupt realistisch, den gigantischen Strombedarf Ihrer Industrie mit Erneuerbaren in Deutschland zu decken?

Es ist ein gewaltiger Kraftakt. Das neue Deutschlandtempo ist bislang ein Bummelzug. Wir brauchen fünf bis sechs neue Windkraftanlagen pro Tag – im Moment sind wir bei einer pro Tag. Wir brauchen allein in unserer Branche, wenn wir uns komplett elektrifizieren, in etwa die gesamte Strommenge der Bundesrepublik Deutschland heute. Und das natürlich als Grünstrom. Am Ende wird die Welt uns auch helfen müssen. Das heißt, wir brauchen französische Atomkraft – ohne jede Frage. Wir brauchen aber auch zukünftig erneuerbare Energien und weitere Quellen wie Wasserstoff aus anderen Ländern der Welt – Afrika und Südeuropa sind da ein großes Thema. Und wir müssen dahin kommen, dass wir unsere Probleme in Deutschland nicht auf Kosten der Welt lösen.

Was meinen Sie damit?

Wir schalten bei uns die Atomkraft ab, importieren aber gerne Atomstrom aus Frankreich. Fracking wollen wir nicht in Deutschland, aber Gas aus den USA, das durch Fracking gewonnen wurde. CCS lehnen wir für uns ab, aber die Norweger sollen das gerne bei sich machen. Das ist eine Form des Sankt-Florian-Prinzips, die so auf Dauer einfach nicht geht.

Sie plädieren also für eine CO2-Speicherung nicht nur in der Nordsee, sondern auch an Land hier in der Bundesrepublik?

Ja, diese Optionen müssen wir uns erhalten. Das sind Themen, über die wir diskutieren müssen.

Bisher blockieren hier die Bundesländer. Was müsste passieren, um mehr CCS zu ermöglichen?

Das ist ein Thema von vielen, wo wir uns als Nation den Realitäten stellen müssen. CCS ist ein dickes Brett, weil völlig klar ist, dass die Parlamente und die Parteien sich über Jahre so eindeutig dagegen positioniert haben, dass es eigentlich kaum ein Zurück gibt. Aber wir brauchen einen neuen gesellschaftlichen Diskurs darüber.

Wie wollen Sie diesen Diskurs führen?

Indem wir konkret über das Zielbild des Standorts Deutschland sprechen. Wo wollen wir als Gesellschaft hin, wie wollen wir zukünftig unseren Wohlstand erhalten? Klar, wir wollen treibhausgasneutral sein, aber wir wollen hoffentlich auch die Industrie erhalten. Der industrielle Kern Deutschlands hat uns in der Vergangenheit generell, vor allem auch über viele Krisen hinweg extrem geholfen. Diesen sollten wir stützen. Dazu brauchen wir zum Beispiel 12.000 Kilometer neue Überlandleitungen – sonst gibt es im Süden keinen Strom und in der Folge zum Beispiel ein anderes BMW und Siemens.

Sie haben den Inflation Reduction Act angesprochen. Der Ansatz ist ja nicht gerade marktwirtschaftlich gedacht, ist das trotzdem eine Blaupause für Europa?

Natürlich nicht. Die europäischen Töpfe sind sogar größer als der IRA-Topf, aber wahnsinnig bürokratisch. Ich kenne Großunternehmen, die haben 30, 40 Leute damit beschäftigt, Unterlagen für ein EU-IPCEI-Verfahren zu generieren, das dann zwei Jahre dauert. So etwas geht in USA derzeit ratzfatz. Was wir brauchen als Antwort auf den IRA ist ein RRA – ein Regulation Reduction Act. Geld ist genug da, willige Unternehmerschaft ist da, aber die Unternehmer kommen in den Prozessen nicht weiter und verlieren darüber die Hoffnung.

Die ganzen Instrumente, die Kommissionspräsidentin von der Leyen als Antwort auf den IRA vorgelegt hat, helfen also nicht viel?

Der gesamte Green Deal produziert nach unseren Berechnungen 14.000 Seiten Regulation. Das können Sie einem Unternehmer nicht erklären, der in Ostwestfalen-Lippe über den Ausbau seiner Produktionsanlagen nachdenkt. Vieles, was da kommt, die PFAS-Regelung, die Chemikalien-Gesetzgebung, das Lieferkettengesetz: Das raubt den Firmen die Zuversicht, dass sie hier noch einigermaßen vernünftig handeln können.

Wer ist Ihr wichtigster Ansprechpartner für diese Themen?

Natürlich Wirtschaftsminister Habeck, mit Unterstützung des Bundeskanzlers, der einen anderen Blick auf die Themen hat. Und natürlich ist die Brüsseler Ebene extrem wichtig. Was wir eigentlich erwarten von der Bundesregierung, ist eine klare Positionierung in Brüssel. Deutschland findet in Brüssel nicht statt.

Frankreich setzt sich vehement für die Interessen seiner Atomindustrie ein.

Genau. Das ist der Unterschied. Paris spielt die Klaviatur der Europäischen Union für den Standort Frankreich. Nehmen Sie das Beispiel Taxonomie: Atomkraft ist dort als grün eingestuft. Und unsere Unternehmer gehen zur Volksbank in Minden für einen Kredit, und bekommen dort zu hören: Als Chemie sind Sie braun, da gibt’s keinen Kredit, das geht leider nicht.

Im Ernst, das passiert?

Das passiert, und zwar im vorauseilenden Gehorsam dessen, was über die EU-Taxonomie jetzt kommt.

Würden Sie sich wünschen, dass die CDU-Kommissionspräsidentin ihrem Vize Frans Timmermans stärker Einhalt gebieten würde?

In Brüssel lernt man gerade ein Wort neu: Wettbewerbsfähigkeit. Das kommt über die EVP-Fraktion etwa beim Naturschutzpaket, wenn auch leider recht spät. Es wäre wichtig, wenn man mehr Ziele setzen würde, statt jeden Zentimeter auf dem Weg dorthin genau zu beschreiben. Das hilft uns nicht, sondern blockiert uns. Die EU braucht wieder mehr Vertrauen in unternehmerisches Handeln statt millimetergenauer Begleitung. Das nimmt der Industrie die Luft zum Atmen und den Glauben an die Zukunft des Standorts.

Sie haben jetzt schon mehrfach vor einer möglichen Abwanderung gewarnt. Wie bedrohlich nah sind wir an so einer Lage?

Ich will keine Horrorszenarien heraufbeschwören. Aber wir sind natürlich in einer schleichenden Phase der Deindustrialisierung. Da kann man nicht drum herumreden. Ja, das passiert jetzt nicht sofort und nicht gleich massenhaft. Aber es geschieht, schleichend. Und weil wichtige Parameter der Veränderung aktuell nicht wirken, nimmt es kaum jemand wahr.

Was meinen Sie?

Früher hatten wir als klassischen Krisen-Parameter die Arbeitslosenzahl. Drei Millionen Arbeitslose? Dann hieß es sofort: Achtung, da passiert was! Heutzutage fehlen Arbeitskräfte, wir verlieren im Moment mehr als 800.000 Arbeitskräfte pro Jahr, weil die Babyboomer in den Ruhestand gehen. Das bedeutet: Es fehlt Personal. Schließen Sie bei Personalmangel Produktionsanlagen, wechseln die Mitarbeiter. Die Statistik zeigt es nicht, der Trend ist aber Realität. Die Dramatik ist den meisten gar nicht bewusst.

Wie wirkt sich das aktuell aus?

Sehr viele Unternehmen bei uns in der Branche sagen, dass sie wenige bis keine neuen großen Investitionen mehr tätigen. Reparaturen ja, Neuinvestitionen nein. Das heißt: Nur wenige machen Dinge, die unter Beweis stellen, dass sie auch in acht Jahren noch da sind.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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