Analyse
Erscheinungsdatum: 18. Juni 2023

Tobias Singelnstein und Uli Grötsch: Wo die Polizei besser werden kann

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Der SPD-Abgeordnete Uli Grötsch soll erster Unabhängiger Polizeibeauftragter beim Bundestag werden. Der Kriminologe Tobias Singelnstein kritisiert, Polizeiarbeit würde bislang nicht ausreichend kontrolliert. Im Doppel-Interview sprechen sie über problematische Entwicklungen und mögliche Reformen.

Herr Grötsch, sehen Sie sich als künftiger Polizeibeauftragter eher als Sprachrohr der Polizistinnen und Polizisten oder als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger?

Uli Grötsch: Zum einen als Sprachrohr für beide Seiten. Und zum anderen auch als Moderator des Gesprächs beider Seiten. Und als jemand, der viel stärker wissenschaftliche Aspekte in diese Debatte einbringen möchte, als es in der Vergangenheit der Fall war.

Herr Singelnstein, ist das die Aufgabe eines Polizeibeauftragten, die Belange der Polizistinnen und Polizisten zu vertreten? Dafür sind doch eigentlich Gewerkschaften da.

Tobias Singelnstein: Erst einmal freut mich, zu hören, dass dieses Amt überhaupt kommt und Herr Grötsch Erkenntnisse aus der Wissenschaft stärker aufgreifen will. In verschiedenen Bundesländern gibt es ja bereits solche Beauftragtenstellen, die ihre Aufgaben durchaus unterschiedlich verstehen. Aber die Polizeibeauftragten-Modelle, die wir in Deutschland diskutieren, sind etwas anderes als zum Beispiel in Großbritannien oder in Dänemark. Hierzulande sind die Stellen in ihrer Zuständigkeit relativ knapp gehalten. Da geht es nicht so sehr um eine unabhängige Kontrolle polizeilicher Praxis von außen, wie sie in der Diskussion häufig gefordert wird, sondern vor allem um Kommunikation und Mediation.

Das heißt?

Singelnstein: Die Frage ist, ob diese Stellen, die ein politischer Kompromiss sind, ausreichen. Wir sehen, dass die interne Kontrolle der Polizei, die Fachaufsicht durch die Innenverwaltungen und auch die strafjustizielle Aufarbeitung nicht so gut funktionieren, wie man sich das vorstellt. Dem Staat fällt es offensichtlich schwer, seine eigenen Amtsträger bei Fehlverhalten zur Verantwortung zu ziehen und strukturelle Probleme in den Blick zu nehmen. Andere Länder ziehen daraus die Schlussfolgerung: Es braucht eine Stelle außerhalb dieses Systems, die die entsprechenden Zuständigkeiten, Ressourcen und Befugnisse hat. Das fehlt in Deutschland noch.

Bei 2790 Ermittlungsverfahren gegen Beamte wegen rechtswidriger Gewaltanwendung wurde 2021 in nur 80 Fällen Anklage erhoben wurde. Im Durchschnitt sind es sonst zehnmal so viel. Ist das ein Problem, Herr Grötsch?

Grötsch: Ich sehe natürlich die Diskrepanz – und den Umgang damit auch als Teil meiner Aufgabe. Während Richter und Staatsanwälte die juristische Bewertung eines Sachverhalts vornehmen und im Disziplinarverfahren die dienstrechtliche Seite beleuchtet wird, bin ich als Polizeibeauftragter meinem Verständnis nach für die politische Bewertung zuständig. Inklusive aller Konsequenzen, die derartige Fälle haben müssen.

Wird Ihr Amt dafür ausreichend ausgestattet sein?

Grötsch: Dafür werden wir zu sorgen haben. So wie es in den jetzt vorgestellten Eckpunkten der Koalition steht, ist das schon richtig gut. Eine Ermittlungsbefugnis parallel zur Staatsanwaltschaft, Akteneinsicht – all das halte ich für extrem wichtig. Ich kenne das auch aus meiner politischen Arbeit: Oft genug hat der Generalbundesanwalt mit dem Hinweis auf ein laufendes Ermittlungsverfahren uns gegenüber die Auskunft verweigert. Für eine Umsetzung der weitgehenden Befugnisse, braucht es eine vernünftige Amtsausstattung, auch hinsichtlich Personal.

Herr Singelnstein, worauf kommt es noch an?

Singelnstein: Ein Grundproblem ist die Zuständigkeit. Die Länder haben sich in der Regel gegen eine Zuständigkeit bei parallel laufenden Straf- und Disziplinarverfahren entschieden, sodass gerade erhebliche Fälle von den Beauftragten nur sehr eingeschränkt bearbeitet werden können. Zudem haben die meisten Landespolizeibeauftragten nur sehr eingeschränkte Befugnisse und sind daher auf die Kooperation der Polizei angewiesen. In der Praxis ist eine formale Unabhängigkeit dann nicht besonders viel wert.

Polizeigesetze, Überwachung, die Einführung von Tasern: Die Befugnisse der Polizei wurden in den vergangenen Jahren ausgeweitet. Ist das gerechtfertigt?

Grötsch: Nach zehn Jahren Bundestag kann ich sagen: Es gibt zwei Anlässe, bei denen es den Ruf nach der Ausweitung von Befugnissen gibt. Den einen halte ich für berechtigt, den anderen nicht. Der unberechtigte ist der Fall, wenn irgendetwas Schlimmes passiert ist. Immer dann kommt der Ruf nach härteren Strafen und weitgehenderen Befugnissen. Zum anderen braucht es manchmal ein Update, das den Erfordernissen der Zeit entspricht. In der Koalition arbeiten wir zum Beispiel an einem neuen Bundespolizeigesetz, weil das aktuelle von 1994 ist.

Singelnstein: Am Ende sind das politische Fragen. Auf der einen Seite erleichtert es natürlich Polizeiarbeit. Aber auf der anderen Seite bedeuten diese Ausweitungen erhebliche Einschränkungen von Bürgerrechten und werfen die Frage nach rechtsstaatlichen Grenzen auf. Vor diesem Hintergrund muss der Gesetzgeber dann entscheiden, ob er diese Ausweitungen möchte oder nicht.

Können Sie das ausführen?

Singelnstein: Wenn wir uns die Entwicklungen seit Beginn der Neunzigerjahre anschauen, gibt es im Prinzip kontinuierlich Ausweitungen der polizeilichen Befugnisse. Dass Befugnisse mal zurückgenommen oder eingeschränkt werden, kommt eigentlich nicht vor. Außerdem haben wir in den letzten Jahren viel über den Begriff der sogenannten drohenden Gefahr diskutiert. Polizeiliches Eingreifen wird durch diese Figur in ein Stadium vorverlagert, in dem noch keine konkrete Gefahr droht. Das ist aus rechtsstaatlicher Sicht eine echt problematische Entwicklung. Auch Präventivgewahrsam und Taser werden in der Forschung sehr kritisch diskutiert.

Inwiefern?

Singelnstein: Der Taser erleichtert die polizeiliche Arbeit. Aber dort, wo er flächendeckend eingesetzt wird, gibt es immer wieder Todesfälle, etwa weil Menschen Vorerkrankungen haben. Der Taser wird in der Praxis häufiger eingesetzt als eine Schusswaffe, weil die Beamtinnen und Beamten denken: Das ist relativ harmlos. Wenn das in der Fläche ausgerollt wird, werden wir auch in Deutschland diese Todesfälle in zunehmendem Maße sehen. Ein paar gab es schon.

Was ist mit dem Präventivgewahrsam?

Singelnstein: Hier wird eine Prognose angestellt darüber, dass jemand vielleicht in Zukunft Straftaten begehen wird. Diese Prognosen sind sehr schwer zu treffen, und gleichzeitig ist die Freiheitsentziehung mit der schärfste Eingriff, den der Staat sich gegenüber Bürgerinnen und Bürgern erlaubt. Deshalb war dieses Instrument in den meisten Bundesländern auf zwei Tage begrenzt. Diese Ausweitung auf fünf oder gar 30 Tage wie in Bayern ist rechtsstaatlich höchst problematisch.

Für Aufsehen sorgen auch wiederholte Falschmeldungen der Polizei, etwa beim G20-Gipfel 2017 oder zu angeblich durch Klimaaktivisten verletzten Beamten.

Grötsch: Ich kann nicht bewerten, wie es zu diesen Falschmeldungen gekommen ist. Aber es braucht ein Bewusstsein dafür, dass es da eine extrem große Verantwortung gibt. Sollte ich Polizeibeauftragter werden und würde es wieder solche Einsätze wie im Hambacher Forst geben – was der Fall sein wird –, dann würde ich mir vor Ort mein eigenes Bild davon machen wollen.

Trotz der grundgesetzlich verbrieften Versammlungsfreiheit werden immer wieder Demonstrationen verboten, wie zuletzt in Leipzig oder in Berlin. Warum?

Grötsch: Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, und deshalb hat die Polizei die Aufgabe – und ich glaube, dass sie ihr in den allermeisten Fällen auch nachkommt – für dessen Ausübung Sorge zu tragen. Immer dann, wenn sie es einschränkt, ist es ein erheblicher Eingriff in die Bürgerrechte. Aber ob das in Leipzig und Berlin gerechtfertigt war oder nicht, kann ich nicht beurteilen, da ich nicht weiß, wie es zu diesen Entscheidungen kam.

Singelnstein: Wir sehen hier schon eine problematische Entwicklung, weil die Versammlungsfreiheit ein ganz zentrales Grundrecht für die Demokratie ist und dementsprechend auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sehr stark betont wird. Vor einiger Zeit ist hier die Gesetzgebungskompetenz auf die Länder übergegangen, die in ihren Gesetzen oft weitergehende Einschränkungen ermöglichen, als das bislang der Fall war. In der Folge kommt es zu Konflikten zwischen der Grundrechtsausübung und dem polizeilichen oder ordnungsbehördlichen Interesse, bestimmte als problematisch angesehene Versammlungen einschränken zu können.

Für viele Schlagzeilen sorgten in den vergangenen Jahren rechtsextreme Chats, dazu kommen illegale Datenabfragen durch Beamte. Was kann man da tun?

Singelnstein: Zentral ist aus meiner Sicht eine Stärkung von rassismuskritischer Aus- und Fortbildung in der Breite. Dann muss man sich auch anschauen: Was sind problematische Strukturen innerhalb der Polizei, die dazu führen, dass sich bestimmte Personen, zum Teil aber auch ganze Dienstgruppen, in so eine Richtung entwickeln?

Grötsch: Das hat für mich viel mit Supervision zu tun. Es ist nach der Ausbildung damit nicht getan. Es muss ein fortdauernder Prozess sein. Schauen Sie sich die jetzige Situation an: Wir haben eine rechtsextremistische Partei, die versucht, den freiheitlichen Rechtsstaat abzuschaffen und auch die Polizei mit ihrem Gedankengut zu unterwandern. Mit Botschaften, die ganz bewusst auf die Polizei als Empfänger gemünzt sind. Dass Polizistinnen und Polizisten das einzuordnen wissen, ist ein extrem wichtiger Punkt.

Wie soll das gehen?

Grötsch: Man muss ein Bewusstsein dafür schaffen. Das sind Menschen, die mitten im Leben stehen und sich nicht ständig mit Politik oder der Vorgehensweise von Demokratiefeinden befassen. Polizeibeamt:innen brauchen eine besonders hohe Resilienz, weil sie das Gewaltmonopol des Staates ausüben und dahingehend weitgehende Befugnisse haben. Das geht nur durch ständige Schulungen.

Haben wir zu wenig Polizei?

Grötsch: Unsere Zuständigkeit ist es, dafür zu sorgen, dass wir für die Aufgabenerfüllung ausreichend Polizei haben. Dass die Aufgaben mehr und größer geworden sind, steht außer Frage – wenn Sie nur an den ganzen Bereich Internetkriminalität denken. Und in diesen Bereichen bräuchte es mehr Polizei, ja.

Singelnstein: Das hängt davon ab, was man als Aufgaben der Polizei sieht. Sie ist in der Gesellschaft die Institution, die rund um die Uhr zur Verfügung steht. Das führt dazu, dass viele Probleme bei ihr landen, die nicht zur originären Polizeiarbeit gehören. Deshalb müssen wir das größer denken und überlegen: Was können andere Stellen sogar besser erledigen?

Zum Beispiel?

Singelnstein: Es wird gerade im Bund über die Legalisierung von Cannabis diskutiert: Das wäre ein großer Bereich, in dem man die Polizei entlasten könnte. Und im Bagatellbereich gibt es noch andere Tatbestände, wo eine Entkriminalisierung ein ganzes Stück Entlastung bringen könnte, etwa Fahren ohne Fahrschein oder Bagatelldiebstähle. Eine größere Rolle im Polizeialltag spielen aber akute Konfliktsituationen, wo häufig soziale Probleme dahinterstehen. Da muss man sich die Frage stellen: Können sich andere gesellschaftliche Instanzen dem nicht besser widmen, bevor sich die Situationen zuspitzen und von der Polizei durch die Brille von Recht und Ordnung angeschaut werden?

Woran denken Sie da?

Singelnstein: Beispielsweise häusliche Gewalt, aber auch Menschen in psychischen Ausnahmesituationen, Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum, zum Beispiel mit Drogennutzern oder Wohnungslosigkeit.

Sie beide machen sich für soziale Ansätze stark, der aktuelle Trend läuft aber in die andere Richtung. Etwa mit der Ausweitung von Präventivgewahrsam, wie er gegen die Letzte Generation eingesetzt wird.

Grötsch: Wir als SPD lehnen den Präventivgewahrsam ab. Jemand in Haft zu nehmen, damit er sich nicht auf der Straße festklebt: Wenn man sich das mal kurz durch den Kopf gehen lässt, dann wird klar, was davon zu halten ist.

Warum trägt die SPD dann in Berlin mit, dass der Präventivgewahrsam auf fünf Tage ausgeweitet werden soll?

Grötsch: Im Bund haben wir dazu eine klare Meinung. In Berlin entscheidet der dortige Senat.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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