Analyse
Erscheinungsdatum: 10. Juni 2023

Streit um die Kindergrundsicherung: Konstruktive Gespräche oder „unwürdige Zahlenschlacht“?

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Bis zur Sommerpause sollen die Eckpunkte für das Großprojekt Kindergrundsicherung stehen, danach das Gesetzgebungsverfahren beginnen. Zum Dauerstreit zwischen Lisa Paus und Christian Lindner kommt noch der Spardruck, der fast alle Ressorts trifft.

Eineinhalb Jahre ist die Vorstellung des Koalitionsvertrags he r, in dem die Kindergrundsicherung gleich achtmal erwähnt wird. Dort klingt das Vorhaben klar: Man wolle „bisherige finanzielle Unterstützungen – wie Kindergeld, Leistungen aus SGB II/XII für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets, sowie den Kinderzuschlag – in einer einfachen, automatisiert berechnet und ausgezahlten Förderleistung bündeln“. Doch über die konkrete Ausgestaltung konnten sich die beteiligten Kabinettsmitglieder, allen voran Lisa Paus und Christian Lindner, seitdem nicht einigen.

Der Streit ist nicht neu. Wer das Wort „Kindergrundsicherung“ auf der Seite des Bundestags eingibt, findet als frühesten Eintrag eine Erwähnung von 1999. Mit Blick auf Zwischenrufe vor allem von seiten der FDP sagte eine Grüne in ihrer Rede, sie hätte „gern den Ansatz einer Kindergrundsicherung – wir sind gerade dabei, ihn zu erarbeiten – dargestellt. Auf Grund der Zwischenrufe und des zeitlichen Rahmens konnte ich das leider nicht mehr.“ Die Abgeordnete von damals: Ekin Deligöz, heute als Parlamentarische Staatssekretärin im Familienministerium zuständig dafür, den Ansatz umzusetzen.

Ein wichtiger Teil davon ist das Ziel, mehr als bisher von den rund drei Millionen Kindern und Jugendlichen zu erreichen, die von Armut betroffen oder zumindest gefährdet sind. Nur rund 30 Prozent der leistungsberechtigten Eltern nahmen zuletzt etwa den Kinderzuschlag in Anspruch. Das auf 250 Euro erhöhte Kindergeld, auf das die Bundesregierung gern verweist, wird bei Familien im Bürgergeld-Bezug zudem voll angerechnet.

Künftig soll es einen einkommensunabhängigen Garantiebetrag als Kindergeld-Nachfolger geben sowie einen nach Alter gestaffelten Zusatzbetrag. Details dazu hatte das Ministerium bereits Anfang des Jahres festgehalten. Offizielle Eckpunkte will die noch unter Paus' Vorgängerin Anne Spiegel eingesetzte interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) vor der Sommerpause vorlegen.

Sechs Ministerien sind daran beteiligt, im Fokus steht dabei neben dem Finanz- auch das Sozialministerium. Denn dieses ist federführend zuständig für die ebenfalls vorgesehene Neudefinition des soziokulturellen Existenzminimums für Kinder. Diese Neudefinition gilt als zentrale Voraussetzung für die Berechnung der neuen Leistung. Wie weit man damit ist, lässt sich Heils Ressort mehr als ein Jahr nach Start der IMA nicht entlocken. Auf Anfrage heißt es nur, man sei „in guten und konstruktiven Gesprächen mit dem BMFSFJ.“

Ein Bündnis aus Verbänden und Initiativen warf Heil Ende Mai bereits Untätigkeit im Kampf gegen Kinderarmut vor. Die rund 30 Organisationen forderten ihn auf, „unverzüglich die notwendigen Arbeiten an einer sach- und bedarfsgerechten Definition des kindlichen Existenzminimums und zur Berechnung des existenzsichernden Zusatzbetrages in der Kindergrundsicherung aufzunehmen“. Aber auch Paus steht in der Kritik. Sie hat noch immer nicht erklärt, wie sie genau auf die zwölf Milliarden Euro kommt, die sie für das Gesetzesvorhaben veranschlagt hatte.

Ihr Kabinettskollege Lindner sagte im Interview mit Table.Media gar, es gebe bei dem Thema „keinen Streit, weil es noch gar keine konkreten Vorschläge gibt“. Heidi Reichinnek, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion, gesteht ihm zu: „Für den Finanzminister ist es leicht, das Thema abzubügeln, weil bisher nur eine Zahl dabei steht und kein Konzept.“ Uneinigkeit gibt es dennoch: Allein die Kosten, die nur dadurch entstehen, dass der Zugang zu Familienleistungen so vereinfacht wird, dass alle Berechtigten sie auch beantragen, beziffert das BMFSFJ auf fünf Milliarden Euro – das BMF auf zwei Milliarden.

„Das ist eine unwürdige Zahlenschlacht“, sagt Reichinnek, deren Fraktion Anfang des Jahres einen eigenen Entwurf für eine armutsfeste Kindergrundsicherung veröffentlicht hatte. Darin war ein Bedarf von mehr als 20 Milliarden Euro festgeschrieben. In einem am Samstag veröffentlichten Interview der Rheinischen Post nannte auch DGB-Chefin Yasmin Fahimi das koalitionäre Feilschen „ange­sichts der Kin­der­ar­mut unwürdig“.

Die Wissenschaftlerin Irene Becker, die vor mehr als zehn Jahren eines der ersten Konzepte für eine Kindergrundsicherung mit entworfen hat, sagte dazu Table.Media : „ Von den ursprünglichen Ideen ist in der jetzigen Debatte nicht viel übrig geblieben, weil sie immer weiter reduziert wurden."

Paus, die wie fast alle Ressorts derzeit unter Spardruck steht, hatte sich kürzlich bereit erklärt, über eine „belastbare Zahl“ zu sprechen. Was das genau bedeutet, wird sich voraussichtlich noch im Juni zeigen. Aus ihrem Haus hieß es am Wochenende: „Es wäre schön, wenn die Kindergrundsicherung als Erfolg aller drei Parteien durchs Ziel gehen würde.“

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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