Analyse
Erscheinungsdatum: 26. Oktober 2023

Sprachforscher Friedemann Vogel: "Manche Wörter wollen einen politischen Willen verkaufen"

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Der Linguist koordiniert an der Universität Siegen den „Diskursmonitor“, der strategische Kommunikation dokumentieren und darüber aufklären will. Er sieht problematische Entwicklungen in öffentlichen Debatten.

Corona, Ukraine, Israel: Welche Rolle spielt Sprache bei den großen Krisen?

Schon bei Corona hatten wir einen Diskurs, der auf Kriegsmetaphern zurückgegriffen und stark polarisiert hat. Es gab nur noch ein Dafür oder Dagegen, das Abwägen zwischen Positionen war kaum möglich. Versuche, zu differenzieren, die Situation insgesamt zu betrachten, wurden in der öffentlichen Debatte tendenziell tabuisiert. Im Vordergrund stand eine Bekenntnisrhetorik: Bin ich für die Ukraine oder gegen sie? Die Sprache übernimmt dabei die Funktion zu zeigen, dass man zur „richtigen“ Seite gehört. Ein Tabuisierungswort der letzten Zeit scheint mir beispielsweise „Relativierung“ zu sein.

Was heißt das?

Natürlich gibt es Leute, die nicht das Interesse haben, tatsächlich zu differenzieren. Aber es gibt eben auch solche, die das wirklich wollen und zum Beispiel versuchen, zu schauen: Wie kam es historisch zu diesem oder jenem Konflikt? Und auch gegen die wird das Schlagwort „Relativierung“ eingesetzt. Das ist insofern gefährlich, als dass es erschwert, eine funktionierende Konfliktlösung zu finden.

Haben Sie ein Beispiel?

Der Philosoph Slavoj Žižek hat in seiner umstrittenen Rede auf der Frankfurter Buchmesse meines Erachtens klar benannt: Der Terror der Hamas ist zu verurteilen und Israel hat das Recht, sich zu verteidigen – aber: Menschenrechte gelten für alle. Schon der Versuch, über so etwas zu sprechen, wird von manchen als Ausweis gesehen für eine Parteinahme, eine Legitimierung von Terror oder gar Antisemitismus – was schon länger ein extrem weiches Schlagwort ist. Dabei ist die Debatte in Israel selbst zum Teil sehr viel differenzierter als hierzulande.

Wie meinen Sie das, „weiches Schlagwort“?

Der Ausdruck „Antisemitismus“ wird in der öffentlichen Debatte in den vergangenen Jahren mehrheitlich als Schlagwort verwendet, um jegliche Form von Kritik an Israel zu diskreditieren. Das Problem ist, dass dadurch für die Fälle, in denen realer Antisemitismus vorliegt, ein geeigneter Begriff fehlt: wenn alles „Antisemitismus“ ist, ist es irgendwann gar nichts mehr. Man muss nur mal in den sozialen Netzwerken schauen: Wo immer jemand allein darauf verweist, dass in Israel momentan eine rechtskonservative Regierung an der Macht ist, die noch vor wenigen Monaten massiven Gegenwind von einem großen Teil der Bevölkerung erhalten hat, schallt einem der Antisemitismus-Vorwurf entgegen.

Wie können wir sprachliche Polarisierung durchbrechen?

Man muss in Debatten versuchen, anzunehmen, dass der andere zur Differenzierung fähig ist. Denn in dem Moment, wo ich das jemandem abspreche, bin ich schon in der Polarisierung drin. Auf die Argumente des anderen sollte man mit Sachargumenten eingehen und nicht persönlich werden. Momentan passiert oft das Gegenteil, da heißt es dann: Das, was du sagst, spricht dafür, dass du so einer bist. Wir entgleisen so die Diskussion sofort, - wenn überhaupt eine stattfindet – Stichwort Talkshows. Das ist typisch für Moraldiskurse. Es geht nicht um die Frage: Wie finden wir zu einer konstruktiven Lösung? Sondern darum, herauszufinden: Zu welcher Gruppe gehörst du? Zu den „Guten“ oder zu den „Bösen“?

Sie koordinieren den sogenannten Diskursmonitor, eine Plattform zur „Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation“: Was beobachten Sie da?

Dieses Jahr hat uns besonders die politische Kommunikation des Alltags beschäftigt. Wir wollen grundsätzlich den Blick weglenken von den großen, vor allem auch massenmedial geprägten Bühnen der Politik. Das Thema wird nicht nur in der Forschung nach wie vor stark vernachlässigt. Es geht darum, zu schauen: Wie funktioniert eigentlich Politik im Alltag, in der Familie, in der Kommune? Wir sehen ein immer stärkeres Auseinanderklaffen zwischen den lokalen politischen Diskursen und denen auf globaler oder Bundesebene.

Wie meinen Sie das?

Auf kommunaler Ebene setzt sich der Eindruck immer stärker fest, dass „die da oben“ einfach irgendwelche Entscheidungen treffen, die die da unten auslöffeln müssen. Das kann stimmen, aber auch eine Strategie sein, um lokale Verantwortung abzudrücken. Bei der Unterbringung von Flüchtlingen 2015 haben viele konservative Landräte zum Beispiel gesagt: Wir können die leider nur in Containern unterbringen, für mehr haben wir kein Geld und der Bund lässt uns im Stich. Sie hätten aber auch anders entscheiden können. Auf der anderen Seite sehen wir vielerorts tatsächlich die Wahrnehmung, dass es ein Auseinanderklaffen gibt zwischen dem Reden über „Partizipation“ und „Inklusion“ sowie der tatsächlichen politischen Praxis vor Ort.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine Aussage wie „Wir schaffen das“ ist ein politisches Statement, das natürlich auch Folgen für die Debatte hat. Aber wenn die Leute vor Ort sagen: „Ihr gebt uns kein Geld dafür, es zu schaffen“, dann entsteht ein Problem. Zwischen dem Anspruch, das moralisch Richtige tun zu wollen – falls man es tatsächlich ernst meint – und den Möglichkeiten, vor Ort tatsächlich moralisch zu handeln. Es gibt also ein Auseinanderklaffen von Moralkommunikation und moralischem Handeln.

Was ist mit dem Thema „Transformation“, von dem überall die Rede ist?

Das hängt vom jeweiligen Kontext ab: Im Wissenschaftsdiskurs beispielsweise wird mit dem Wort auch ein Stück weit verdeckt, dass die Institutionen gerade sukzessive an Mitteln verlieren: Die Finanzierung der Universitäten hat nachgelassen, die Energiepreise sind gestiegen, es gibt Investitionsstau etc. Da helfen Floskeln rund um „Innovation“ und „Transformation“ dabei, über bestimmte Problemstellen hinwegzuschauen. Ist man gegen Innovation, wenn man für mehr wissenschaftliche Grundfinanzierung anstelle von kurzen Projektfinanzierungen ist?

Innovation braucht man, wenn man Fortschritt erreichen will.

„Fortschritt“ ist ebenfalls so ein Schlagwort – wie „Wachstum“. „Wachstum schafft Wohlstand“ ist eine der wiederkehrende Formel – und für Wachstum braucht man Innovation. Das sind typische Schlagwörter neoliberaler Ideologien, die soziale Differenzen in der Bevölkerung außen vor lassen.

Ist „neoliberal“ nicht selbst ein Kampfwort?

Im politischen Diskurs wird der Ausdruck, soweit ich sehe, eher selten gebraucht. Daher eignet er sich als Kampfbegriff nur bedingt. Im Fachdiskurs meint man damit – etwas pauschal gesagt – meist politische Weltanschauungen, die eine Gesellschaft möglichst in allen Bereichen – von der Kita bis zur Rente –marktförmig, selbstregulierend und fern von staatlicher Kontrolle organisiert sehen möchte.

Das heißt?

Verbunden damit sind zum Beispiel Leistungsmythen: wer viel hat, der hat es „verdient“, auch wenn er es defacto größtenteils einfach nur geerbt oder durch Ausbeutung anderer „erwirtschaftet“ hat. Und wer arm ist, der ist dann nicht „flexibel“ oder „innovativ“ genug und muss durch „Leistungsanreize“, also Verelendungsandrohungen, bewegt werden. So eine Ideologie wird natürlich vor allem von Leuten mit Kapital vertreten, weil sie ein Interesse daran haben, ihr Vermögen zu halten und zu vermehren. Die Ideologie ist aber auch widersprüchlich: denn wenn es um drohende oder echte Vermögensverluste geht, dann ist die Solidargemeinschaft eine gern gesehene „Retterin“.

Wie kann man denn Floskeln wie "Fortschritt" und "Innovation" vermeiden?

Ich würde – fast – nie sagen, diese oder jene Wörter sind generell nicht verwendbar. Das sind Wörter, die in der politischen Kommunikation einen Appell-Charakter haben: Sie werden als Schlagwörter oder Kampfbegriffe verwendet. Sie zeigen an, wo der Sprecher oder die Organisation politisch steht beziehungsweise hin möchte, sie wollen einen politischen Willen verkaufen. Außerhalb der Politik können die Wörter natürlich ganz anders gebraucht werden, Wörter können verschiedene Bedeutungen annehmen.

Das heißt, man bekommt bestimmte Begriffe einfach nicht weg aus der Politik?

Doch, natürlich: kein Ausdruck ist vor Bedeutungswandel geschützt. Manche Wörter fungieren nur vorübergehend als öffentlich wirksame Kampfbegriffe – z.B. "Betreuungsgeld" versus "Herdprämie". Andere haben eine lange Halbwertszeit - zum Beispiel sogenannte Hochwertwörter wie "Freiheit", "Sicherheit" oder eben "Fortschritt". Solche Wörter gehören zur heutigen politischen Kommunikation dazu. Die Frage ist eine andere.

Und zwar?

Ob Bürgerinnen und Bürger - oder auch Journalistinnen und Journalisten - sich von solchen leeren Floskeln übertölpeln lassen oder ob sie wach und kritisch nachfragen: Was meinen Sie denn mit "Fortschritt" – und wer bezahlt die Zeche? Oder: Warum sollte diese oder jene politische Maßnahme mehr "Freiheit" bringen – Freiheit für wen und vor was?

Als Begriff umstritten ist auch „Technologieoffenheit“. Dabei wäre es doch gut, wenn eine neue Entdeckung etwa bei der Energiewende helfen würde. Oder?

Es kommt auf den Zusammenhang an. Wenn ich im Privatgespräch sage: „Dir sind technologische Veränderungen suspekt, sei mal offener und probiere was aus“, dann ist das ein anderer Sprachgebrauch, als wenn ich versuche, damit eine bestimmte politische Agenda durchzusetzen. Die FDP nutzt das Wort als Argumentationsfigur, um Kritiker zu desavouieren, indem sie sagt: Ihr lehnt das nur ab, weil ihr ängstlich, voreingenommen, irrational technologiefeindlich usw. seid.

Kann die politische Aufladung von Wörtern nicht auch etwas Gutes haben, Leute motivieren? Mit Blick auf die Folgen des Ukraine-Kriegs sprach Christian Lindner von erneuerbaren Energien als „Freiheitsenergien“.

Das war eine geschickt gewählte Wortneuschöpfung. Aber ich glaube, dass sie bei den meisten nicht verfangen hat. Denn größere Teile der Bevölkerung haben unter den hohen Energiepreisen gelitten. Und ich vermute stark, dass die das dann eher als Hohn wahrgenommen haben.

Beim „Heizungsgesetz“ wird den Grünen vorgeworfen, erst die soziale Dimension vernachlässigt und dann die ökologische Dimension verwässert zu haben. Wie kann man bei so etwas die Balance halten?

Das ist eine politische Frage. Aber aus diskursanalytischer Perspektive sehe ich derzeit ehrlich gesagt eher schwarz, was den präventiven Umgang mit drohenden Klimawandelfolgen angeht und die Frage, wie man am besten die Bevölkerung mitnimmt. Die Regierung verbindet meiner Meinung nach klimapolitische Maßnahmen nicht ausreichend mit sozialpolitischen. Die Grünen ignorieren, dass „Verzicht“ beziehungsweise umwelterhaltende Mehrkosten für die einen nur ein anderes Auto, für andere aber gar kein Auto und Angst vor sozialem Abstieg bedeuten. Und während weniger Fleischkonsum für die gehobene Mittelschicht heute eher habituell ‚schick‘ und daher auch kein Verzicht ist, ist Fleischkonsum für ärmere Schichten immer noch ein Zeichen für geringen Wohlstand, den man sich nicht wegnehmen lassen will. Wenn man das argumentativ nicht berücksichtigt und zudem auch nicht bereit ist, den Reichtum in unserer Gesellschaft umzuverteilen, wird man keine Mehrheiten für eine konsensuelle und nachhaltigere Klimapolitik finden.

Nach Wahlniederlagen sagen Parteien oft: Unser Programm ist gut, wir haben es nur nicht genug kommuniziert. Ist da was dran?

Das ist eine rhetorische Finte. Wenn eine Partei das sagt, strebt sie in der Regel eine Imageverschiebung an, aber keinen Politikwandel. Der AfD gelingt es momentan fatalerweise besser als anderen, an die Arbeiter heranzukommen, weil sie sich als bessere Arbeitnehmervertretung inszeniert. Das liegt auch an politischen Entscheidungen der SPD wie der Agenda 2010: Wenn die real gemachte Politik der moralkommunikativen Selbstpräsentation widerspricht, dann nehmen die Leute das wahr und suchen andere politische Orientierungen – auch wenn die de facto gegen ihre Interessen sind, wie im Falle der AfD.

Die Kommunikation von Robert Habeck wird viel gelobt. Zu Recht?

Es ist ein anderes Format der Politiker-Bürger-Kommunikation, es macht ihn scheinbar nahbar. Aber natürlich ist es Teil einer Kommunikationstrategie.

Was ist mit der Kommunikation von Olaf Scholz? Von „Doppelwumms“ bis „Zeitenwende“ sind einige Ausdrücke jetzt schon in Erinnerung geblieben.

Mit seinem nüchternen Image hat er immer wieder strategisch gespielt. Wenn er dann mal ein bisschen emotionaler redet, wird das besonders stark wahrgenommen. Da lauten die Kommentare dann: „Kanzler on fire.“

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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