Analyse
Erscheinungsdatum: 09. Juli 2023

Sozialforscher Sinanoğlu: „Wir brauchen eine erfolgreiche Gegenerzählung“

Was können die anderen Parteien rechten Ideen entgegensetzen? Cihan Sinanoğlu, Soziologe am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, schlägt dafür neue gesellschaftliche Erzählungen vor. Die Herausforderung: Sie müssen komplexe Zusammenhänge herstellen. Ein Ansatzpunkt ist die klassisch sozialdemokratische Idee der sozialen Mobilität.

Table.Media: Hat Sie das „Comeback“ der AfD überrascht?

Cihan Sinanoğlu: Nein. Wir wissen aus der Forschung und der Geschichte, dass rechte und rassistische Ideen in Krisen eine Konjunktur erfahren. In der Krise suchen die Menschen nach Erklärungen für die Einbußen, die sie hinnehmen müssen. Wenn Lebensmittel teurer werden, wenn der Klimawandel bestimmte Politiken notwendig macht und die Leute Angst haben, dass sie materielle Schäden davontragen, dann suchen die Menschen nach einer Erklärung. Und das ist besonders in dieser Krise der Fall.

Was meinen Sie damit genauer?

Aus der Rassismusforschung wissen wir, dass diese Krisendynamik auch mit rassistischen Narrativen verwoben ist. Rassismus erklärt uns ja nicht nur, wer die „Anderen“ und „Fremden“ sind, sondern auch wer das „Wir“ ist. Rassismus stiftet also Sinn. In der aktuellen Krise zeigt sich das in der Problematisierung von Migration, es geht um eine vermeintliche Überforderung und Überfremdung der Gesellschaft, um Kriminalität und einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung. Dann ist es oft nicht mehr möglich, anders über soziale Themen zu sprechen. Auch in der gegenwärtigen Situation scheint das nicht machbar zu sein.

Was bedeutet das für die Politik? Welche Reaktionen bräuchte es, um rechten Ideen Einhalt zu gebieten?Die Politik sollte nicht vor rechten und rassistischen Bewegungen und ihren Ideologien einknicken. Empirisch gibt es für diese keine Mehrheiten in diesem Land. Gleichzeitig bestimmen rechte Ideen den Diskurs so erfolgreich, dass sie Politik ganz konkret beeinflussen – wir sehen es gerade bei der Migrationspolitik, vor allem auf europäischer Ebene. Was fehlt im politischen Raum, ist eine ebenso erfolgreiche Gegenerzählung.

Wie könnte diese aussehen?

Erst einmal muss ich versuchen, die Krise zu beschreiben – und dafür zuerst die Gesellschaft, in der wir leben. Allein diese Beschreibung fehlt. Die Rechte dagegen liefert bestimmte Beschreibungen, zumindest von dem, was der Feind ist. Das ist Links-Grün, das ist die Migration, das sind die „korrupten Eliten“ und so weiter. Und dagegen setzen sie das Bild von einer romantisierten Vergangenheit, von Widerspruchslosigkeit und Frieden und so weiter. Und das verfängt.

Präsentieren die rechten Parteien in Ihren Augen also ein Versprechen, die Verhältnisse zu ändern, ein Versprechen, das anderen Parteien oder Strömungen nicht mehr geglaubt wird?

Ja, in diesem Sinne ist die Rechte die einzige wirkliche Opposition im gegenwärtigen Parteiensystem die Rechte. Das gilt auch für die anderen repräsentativen Demokratien Europas. Die Radikalität zeigt sich dabei weniger in ökonomischen Fragen als vielmehr in den Angriffen auf die Demokratie, Pluralität und Migration.

Was könnte eine erfolgreiche Gegenerzählung sein?

Wir haben das Problem, dass es bisher keine Gegenerzählung gibt, die groß genug ist. Es reicht nicht, über Repräsentation und Diversität zu sprechen, auch wenn ich das für wichtig halte. Wir müssten auch nicht nur Bildungsversprechen machen, sondern viel mehr bei der Stadt- und Wohnungspolitik und den Erwerbsverhältnissen der Eltern ansetzen. Denn das Bildungssystem benachteiligt vor allem Menschen und Gruppen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status in der Gesellschaft. Und das kann man weiterspinnen, also die Erzählung muss größer sein als Forderungen nach mehr Diversität in Aufsichtsräten. Dieses Thema geht an den meisten Menschen vorbei, weil es nicht wirklich die schlechten materiellen Verhältnisse in denen viele Menschen Leben infrage stellt.

Um es konkreter zu machen – gibt es Beispiele, wo eine solche Erzählung gelungen ist?

Die Sozialdemokratie ist ja mal angetreten mit dem Versprechen von sozialer Mobilität und Aufstieg. Gilt dieses Versprechen eigentlich noch? Also: Macht die Sozialdemokratie eigentlich noch Politik für diese soziale Mobilität? Das wäre eine Erzählung, die auch heute in einer Migrationsgesellschaft wie der deutschen durchaus funktionieren würde. Wie lässt sich so eine Migrationsgesellschaft neu denken? Was bedeutet das für unser Zusammenleben, aber auch unsere Sozialstruktur? Und das sind, glaube ich, größere Erzählungen, die die Politik im Moment nicht findet.

Warum nicht?

Es geht darum, eine Verbindung zu finden für große gesellschaftliche Herausforderungen. Natürlich ist eine Migrationserzählung eine andere als eine Erzählung von Arbeiterinnen und Arbeitern in Ostdeutschland. Aber es gibt auch sehr viele Überschneidungen und sie liegen vor allen Dingen in den Arbeitsverhältnissen, in denen die Leute leben, und den Löhnen, die gezahlt werden und den Renten, die errechnet werden und den Zukunftsängsten, die dadurch entstehen. Wo sind die politischen Kräfte, die versuchen, diese Überschneidungen zu finden und diese Geschichten gemeinsam zu erzählen?

Das Materielle müsste also in den Vordergrund treten?

Natürlich sind materielle Fragen auch immer verbunden mit Fragen von Identität und von Zugehörigkeit. Deshalb können wir Repräsentations- und Diversitätspolitik nicht komplett über Bord werfen. Und deshalb könnte die Politik diesen verschiedenen Geschichten, diesen Biografien so viel Raum lassen für Differenz, aber ich muss diese Differenz auch wieder zusammenführen in eine solidarische Erzählung. Was verbindet diese Menschen und was kann ich tun, um ihr Leben besser zu machen?

Die Herausforderung liegt also gar nicht so sehr in der Radikalität, sondern darin, die Komplexität der Lösungen, die eigentlich nötig wäre, besser zu verkaufen.

Ja, und das gleiche Problem gibt es nicht nur bei sozialen Themen. Sondern auch bei anderen Fragen, wie zum Beispiel dem Klimawandel. Auch hier ist die Frage: Welche gesellschaftlichen Kräfte können und müssen mobilisiert werden, damit sich die Gesellschaft damit adäquat auseinandersetzen und Antworten darauf finden können?

Wie könnte das funktionieren?

Ich glaube, es braucht einen Blick auf unsere gesellschaftlichen Institutionen. Und die Frage, funktionieren die in einer Migrationsgesellschaft mit allen ihren neuen Herausforderungen eigentlich so, wie sie sollten? Welche Machtverhältnisse kristallisieren sich dort eigentlich heraus? Und zum anderen könnte die Politik mehr nach anderen Narrativen suchen, um Menschen zu mobilisieren. Wenn wir zum Beispiel auf die Gastarbeiter*innen und Migration schauen, kann man sowohl eine Geschichte von Ausbeutung und Entrechtung erzählen. Von Leid und Menschen, die in Baracken zusammengepfercht werden. Aber in dieser Geschichte steckt auch eine widerständige Geschichte von Streiks und Arbeitskämpfen. Von Menschen, die nicht Opfer ihrer Verhältnisse sein wollen, die ihr Leben in die Hand nehmen und ein besseres Leben suchen und auch einfordern.

Warum ist es wichtig, das zu erzählen?

Die gesellschaftliche Veränderung hat ja nicht alleine stattgefunden, sondern in Allianzen oder solidarischen Bewegungen. Gleichzeitig muss man auch die Ambivalenzen mit den Gastarbeiter*innen offensiver erzählen. Wir wollen zu oft eine völlig kohärente Geschichte erzählen und daraus bestimmte Dinge ableiten. Aber so ist Geschichte nicht. Sie ist voller Brüche und Rückschritte, voller Fortschritte, voller Widersprüchlichkeiten. Und man müsste viel klarer zurückblicken und sagen, was gut war und was nicht gut war. Im Moment sind wir sehr passiv, wenn es um die Geschichte der Migration geht, das nutzen rechte Kräfte aus, indem sie die Narrative über Migration bestimmen.

Wie meinen Sie dieses passiv?

Um beim Beispiel zu bleiben, man könnte über die Gastarbeiter*innen erzählen, dass viele Menschen trotz der schwierigen Arbeitsverhältnisse und der fehlenden politischen Rechte ihre Leben in die Hand genommen haben und dieses Land als ihr Zuhause beschreiben. Sie haben Familien gegründet, sind angekommen und haben dieses Land mit verändert und geprägt. Für mich ist es nicht das eine oder das andere, sondern beides gleichzeitig. Und das ist natürlich eine große Herausforderung und für viele auch eine Zumutung, diese Gleichzeitigkeit anzuerkennen.

Jetzt machen Sie es wieder ziemlich kompliziert.

Ja, ich mache es kompliziert und eigentlich bräuchte es einfache Botschaften, wenn man gegen die Einfachheit ankämpfen will. Aber vielleicht stimmt das auch nicht. Vielleicht müssen wir die Dinge ein bisschen komplizierter machen. Ich glaube auch, dass wir uns als Gesellschaft durchaus mehr Komplexität zumuten können.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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