Ein ganzer Schwung Parteivorsitzende sind bereits da, etwa Lars Klingbeil, Saskia Esken und Ricarda Lang oder Abgeordnete wie die CDU-Bundesvorständin Serap Güler oder die schleswig-holsteinische Bildungsministerin und stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Karin Prien. Auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), MdB und Europa-Spitzenkandidatin der Liberalen, ist auf der Plattform aktiv.
Und mit Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD) und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sind auch die ersten Kabinettsmitglieder vertreten. Auch Europaabgeordnete wie EP-Vizepräsidentin Katarina Barley (SPD) oder Rasmus Andresen (Grüne), Wissenschaftler wie Carlo Masala (Universität der Bundeswehr München) oder Jens Südekum (Universität Düsseldorf), Think Tanker wie Constanze Stelzenmüller (Brookings) und Journalisten wie Nicole Diekmann (ZDF), Paul Ronzheimer (Bild) und Daniel Brössler (SZ) tummeln sich nach dem langen Wochenende auf Bluesky.
Diese Konten sind alle echt, versichert Ihnen der Autor, doch auch die ersten Fakeprofile tauchten bereits auf. Einen blauen Haken gibt es dort nicht. Sicher gehen lässt sich bei MdBs immerhin durch einen besonderen Service der Bundestagsverwaltung : Die hat bereits selbst einen verifizierten Account angelegt – und folgt ihrerseits ausschließlich Abgeordneten, die ihr Konto gegenüber der Verwaltung bestätigt haben.
Die Plattform, die in der Funktionsweise der Oberfläche fast ein Klon von Twitter ist, hat sich damit binnen weniger Tage zum neuen Star am Social Media-Himmel der Bundesrepublik entwickelt. Derzeit gibt es nur zwei Wege, um auf Bluesky zu kommen: Einladungen oder viel Geduld. Denn noch ist die Plattform nicht allgemein zugänglich. Entweder die Nutzer registrieren sich für die offizielle Warteliste. Oder das Gästelistenprinzip wird genutzt: Nutzer können andere Nutzer in begrenztem Umfang (sechs Einladungscodes pro Monat) zu der Plattform einladen. Die erhalten ihrerseits dann wieder Einladungscodes: Ein Schneeballsystem, mit dem auch schon zuvor Social Media-Anbieter starteten. Zuletzt etwa bis 2021 die SocialAudio-Plattform Clubhouse, die nach kurzem Höhenflug längst wieder vergessen zu sein scheint. Das dürfte bei Bluesky anders werden: Die schiere Masse der Nutzer macht die Plattform zumindest für das politische Berlin interessant.
Haupttreiber dieser Entwicklung ist dabei ironischerweise Twitter, oder wie die Plattform jetzt heißt: X. Nachdem der exzentrische Milliardär Elon Musk die Plattform gekauft hatte, herrscht dort nach Auffassung vieler Nutzer ein raues bis menschenverachtendes Klima.
Und Musk gilt persönlich als Repräsentant genau dieser Problematik: Am 29. September zitierte er einen Tweet, in dem darauf hingewiesen wurde, dass derzeit acht Schiffe deutscher NGOs im Mittelmeer „illegale Migranten einsammeln, um sie in Italien auszuschiffen. Diese NGOs werden von der deutschen Regierung subventioniert. Lasst uns hoffen, dass die AfD die Wahlen gewinnt, um diesen europäischen Suizid zu stoppen.“ Musk ergänzte den Tweet um die Frage: „Weiß die deutsche Öffentlichkeit davon?“ Das brachte ihm unter anderem Antworten vom Auswärtigen Amt ein: „Ja. Und es wird Lebensrettung genannt.“ Woraufhin Musk wiederum von „Invasion Vibes“ fabulierte. Den Vorwurf der Förderung der AfD wollte Musk am Sonntag dann aber doch nicht mehr so verstanden wissen: Er kenne die AfD nicht und unterstütze auch keine Parteien. Dass er rechtsextreme Narrative aktiv unterstützt – für den gebürtigen Südafrikaner offenbar kein Problem.
Musks Verhalten brachte für viele Nutzer das Fass zum Überlaufen – die Plattform leidet unter automatisiertem Spam und massenhaft anonymen Nutzerkonten, die Hass verbreiten. Und gegen die X unter Musk noch weniger wirksam vorzugehen scheint, als es die vorherigen Eigentümer taten.
Genau hier versprechen die Bluesky-Betreiber einiges anders zu machen: Schon frühzeitig kündigten sie an, dass sie Moderation von Inhalten und Konten für unverzichtbar erachten. Ob das in der Realität auch gelingt, ist noch offen – mit der bisherigen Einlasspolitik allerdings ist es gelungen, das Problem zumindest kleinzuhalten. Ob die Betreiber dabei auch die naheliegende Option wählen, Einladende für mögliches Fehlverhalten der von ihnen Eingeladenen in Mithaftung zu nehmen, ist unklar.
Dass Bluesky Twitter besonders ähnlich ist, liegt dabei an der Geschichte der Plattform: Sie war ursprünglich ein Projekt ebendort. 2019 gestartet wurde die Firma Bluesky 2022 unabhängig – nur wenige Tage vor der Kaufofferte Musks. Dass mit blue.deck eine dem bekannten Tweetdeck sehr ähnliche Oberfläche für komplexeres Social Media-Management bereits zur Verfügung steht, ist sicherlich ebenfalls kein Zufall. Dazu kommen personelle Überschneidungen: Jack Dorsey, einer der Twitter-Gründer, hatte Bluesky schon innerhalb von Twitter gestartet. Mit dem erklärten Ziel, eben keine Kontroversen und Wutgeheul belohnenden Algorithmen zu implementieren. Zwar setzt auch Dorsey mit Bluesky auf Algorithmen – aber diese können die Nutzer zusätzlich und sogar selbst kuratiert einsetzen. Er ist ebenso an Bluesky beteiligt wie weitere ehemalige Twitter-Mitarbeiter.
Die Entwicklung der Plattform ist dabei eng verbunden mit dem Web3-Crypto-Hype der vergangenen Jahre, also dem Traum der vollständigen Dezentralisierung von Macht durch Technologie, den auch Dorsey selbst träumt. Ziel ist es konsequenterweise, dass nicht eine einzelne Plattform der Ort sein soll, an dem diskutiert wird, Inhalte hinterlegt sind und die Nutzer Inhalte verwalten können. Stattdessen ist die Grundidee eine Föderation: Verschiedenste Plattformen sollen miteinander kompatibel kommunizieren – ein Video von einer Plattform soll auf einer anderen eingebunden werden können, ein Bild ebenso. Und die Nutzeridentitäten sollen ebenfalls dezentral verwaltbar sein. Wem das bekannt vorkommt, der denkt vermutlich an Mastodon – die technisch für viele etwas zu komplizierte Twitter-Alternative im sogenannten Fediverse. In der politischen Aufmerksamkeit in Deutschland zieht BlueSky jedenfalls binnen weniger Tage an Mastodon vorbei.
Aus regulatorischer Sicht allerdings plagt Bluesky an vielen Stellen, was auch bei anderen Anbietern schon problematisch ist: Die Plattform hat ihren juristischen Sitz in den USA, was für Datenschützer ein potenzielles Problem darstellt. Und auch wenn sie erst einmal noch kein besonders großer Anbieter im Sinne des Digital Services Act der EU ist, muss sie ab Februar die meisten der DSA-Regeln befolgen. Ob sie das besser oder schlechter tut als Twitter/X, lässt sich heute noch nicht im Ansatz sagen.