„Das muss ich jetzt erstmal verdauen“. Dieser Satz war am Samstagabend unter den Delegierten der bayerischen FDP im Stadttheater Ingolstadt häufig zu hören. In einer dramatischen Landesvertreterversammlung hatten sie zuerst die Landeschefs Martin Hagen und Katja Hessel zu den Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl gemacht – und anschließend in mehreren Kampfkandidaturen zahlreiche profilierte Fachpolitiker aus der Bundestagsfraktion abgewählt.
Allen voran Lukas Köhler. Der Klimaexperte der FDP und Vize-Fraktionsvorsitzende im Bundestag hatte in den vergangenen Jahren die klimapolitische Ausrichtung seiner Partei maßgeblich geprägt. Bereits in der Zeit der außerparlamentarischen Opposition der FDP (2013–2017) arbeitete Köhler an Konzepten, wie Klimaschutz mit marktwirtschaftlichen Instrumenten gestaltet werden könnte und setzte sich insbesondere für einen CO₂-Zertifikatehandel ein. Er gilt nicht nur als ausgewiesener Fachmann, sondern auch als integrer und bodenständiger Politiker. Wenige aus der FDP sind über die Parteigrenzen hinaus so respektiert wie er.
Doch in Ingolstadt endete seine politische Karriere vorerst abrupt. Noch zu Beginn der Versammlung war das nicht absehbar: Köhler kandidierte für Platz 4 der Landesliste – und hatte als einziger aus den Top 10 zunächst keinen Gegenkandidaten. Susanne Seehofer, Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, brachte das zumindest grob vorsortierte Kandidatenfeld jedoch aus den Fugen. Erst am Freitagabend hatte sie angekündigt, gegen Landesgruppen-Chef und Finanzausschuss-Obmann Karsten Klein für Platz 3 kandidieren zu wollen und setzte sich dank einer starken Rede durch.
„Der beste Proporz ist nicht der, den sich sieben Bezirksvorsitzende im Vorhinein ausgedacht haben. Der beste Proporz ist der, den wir heute wir wählen“, hatte sie den Delegierten zugerufen und für frischen Wind geworben: „Wir können doch von den Leuten draußen nicht mehr Disruption verlangen, wenn wir selbst nicht dazu bereit sind.“ Angesichts von 3 bis 4 Prozent in den Umfragen könne man nicht zur Tagesordnung übergehen und weitermachen wie bisher.
Klein entschied sich daraufhin, gegen Köhler auf Platz 4 zu kandidieren – und gewann. Damit begann für Köhler eine Abwärtsspirale. Auf Platz 5 unterlag er unter anderem Daniel Föst, dem baupolitischen Sprecher der Fraktion und ehemaligen Landesvorsitzenden. Nun wurde für Köhler der Regionalproporz zum Problem: Föst kommt wie Köhler aus München; die Anhängergruppen der beiden überschneiden sich. Neben ihnen kandierten auch der ehemalige Landtagsabgeordnete Sebastian Körbe r und der Parlamentarische Geschäftsführer Stephan Thomae. Köhler holte im ersten Wahlgang mit 21,5 Prozent die wenigsten Stimmen – Föst setzte sich in der Stichwahl gegen Thomae durch.
Köhler und Thomae versuchten es für Platz 6 erneut – doch da stieg auch die frauenpolitische Sprecherin und niederbayerische Bezirksvorsitzende Nicole Bauer ins Rennen ein. Bauer gewann deutlich; Köhler und Thomae zogen sich daraufhin zurück. Für eine erneute Kandidatur um Platz 7 konnten seine Unterstützer Köhler nicht mehr motivieren. Sichtlich schockiert verließ er frühzeitig die Halle.
In seiner Abwahl zeigte sich auch der schwelende Frust der Parteibasis. Vieles, was aus Sicht der FDP-Mitglieder in der Ampel-Koalition schlecht lief, wurde auf Köhler projiziert. Dass man beim Klimaschutz zu sehr auf die Grünen zugegangen sei und beim Bürgergeld auf die SPD. Dass er ruhig verhandelte, statt Wirtschaftsminister Robert Habeck öffentlich Contra zu geben. Oft brauchen Parteitage ein Ventil, um ihren Unmut rauszulassen. Das trifft meist nicht die erste, sondern die zweite Reihe. In diesem Fall war Köhler der Leidtragende.
Thomae, der als Innenexperte ebenfalls hohe Anerkennung genießt, kandidierte auch nicht weiter. Aus zwei Gründen: Einerseits hatte es im Vorfeld die Vereinbarung gegeben, dass die unterlegenen Kandidaten der ersten sechs Plätze ab Platz 7 aussteigen sollen, wo es ein geplantes Duell zwischen dem JuLi-Spitzenkandidaten Nils Gründer und dem außenpolitischen Sprecher Ulrich Lechte gab, das Gründer gewann. Andererseits, weil Thomae seinem schwäbischen Kollegen Maximilian Funke-Kaiser nicht die Chancen verbauen wollte. Funke-Kaiser hatte für die Spitzenkandidatur der Region Thomae den Vortritt gelassen, kandidierte stattdessen aber für den noch halbwegs aussichtsreichen Listenplatz 8. Wäre Thomae kurz davor gelandet, hätte Funke-Kaiser dafür keine wohl keine Chance gehabt. So ist das mit dem Regionalproporz.
Köhler und Thomae waren jedoch nicht die einzigen, deren Zeit im Bundestag unabhängig vom Ausgang der Wahl zu Ende gehen wird: Mit Andrew Ullmann und Kristine Lütke scheiterten der gesundheitspolitische Sprecher und die Obfrau im Gesundheitsausschuss ebenfalls in mehreren Kampfkandidaturen. Ihnen wurde vor allem die von der FDP in der Ampel umgesetzt Cannabis-Legalisierung zum Verhängnis. Die stand zwar im Wahlprogramm der Liberalen, kam im konservativen Bayern aber nicht bei allen FDP-Mitgliedern gut an.
Der außenpolitische Sprecher Ulrich Lechte und der medienpolitische Sprecher Thomas Hacker verloren ebenfalls mehrfach – und landeten auf den nur wenig aussichtsreichen Listenplätzen 11 und 12. Die in der FDP zum geflügelten Begriff gewordene „offene Feldschlacht“ wurde damit am Samstag zur Realität. Und so gab es noch einen Satz, der im Stadttheater am Samstag häufiger fiel: „Gut, dass jetzt erstmal Weihnachtspause ist.“