Herr Schuster, Sie waren elf Jahre im Bundestag und sind jetzt ein Jahr in Sachsen. Was ist der größte Unterschied?
Ich muss können, was ich sage.
Was heißt das?
Als Abgeordneter hat man die Chance und auch viel Freude daran, mit Zielen und visionären Gedanken zu arbeiten. Sich vorzustellen, wie die Politik gestaltet sein müsste. Und wie man dafür Mehrheiten sammelt. Dich fragt niemand: Wie machen Sie das? Wie kriegen Sie das hin? Das ist hier ganz anders. Ab Minute eins in der Pressekonferenz steht die Frage im Raum: Schafft der das? Kriegt er das überhaupt umgesetzt? Kann der das bezahlen? Also Leistung auf den Boden bringen, das ist der Riesenunterschied.
Ist das Lust oder Last?
Ich sage es ganz offen: In mir sprüht es immer noch so vor Ideen, die aber politisch nicht leicht, vielleicht gar nicht realisierbar sind. Also bleibst du erstmal ruhig, wie auf Twitter. Fühlt sich manchmal an, wie in einem PS-schwachen Auto zu sitzen.
Klingt, als ob Sie der großen Freiheit nachtrauern.
Nein. Das Amt hier empfinde ich als großes Glück. Ja, es ist viel anfordernder, aber auch viel erfüllender. Entscheiden. Bewegen. Politik machen, statt nur darüber zu reden. Aber ohne die parlamentarischen Erfahrungen vorher wäre ich natürlich deutlich schlechter vorbereitet. Gleichzeitig stimmt, was neulich ein Journalist geschrieben hat: Dass ich manchmal mit meinen Ideen überlaufe. Da muss ich mehr Zurückhaltung lernen, weil alle ein gutes Gedächtnis haben und mich dran erinnern. Die Medien, der Koalitionspartner, der Ministerpräsident. Oder die Opposition. Du musst halt liefern, wenn du redest. Also muss ich an mir arbeiten, ich bin kein ausgebildeter Diplomat, ich bin Quereinsteiger.
Ein Thema beschäftigt zurzeit viele: Wie umgehen mit der Umfrage-Stärke der AfD? Friedrich Merz versprach einst, sie zu halbieren. Davon ist er weit entfernt. Wieso ist das so?
Weil wir zu viel genau über diese Frage diskutieren. Ich glaube, das ist das Kernproblem. Das macht die AfD sehr stark. Sie muss gar nichts mehr tun; nur dasitzen und zugucken, wie wir uns beharken. Das ist der Kardinalfehler.
Wer ist wir? Die CDU? Oder alle Parteien links von der AfD?
Es gilt für alle. Dass wir mit der Ampel über die AfD streiten, ist für mich ein No-Go. „Nicht mal ignorieren“ ist die Devise. Und wenn es schon sein muss, dann sicher nicht nach dem Motto: Wer ist schuld? Das müssen wir lassen, und das müssen wir auch mit allen anderen Parteien hinbekommen. Ich war Fußballer. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir unglaublich intensiv öffentlich über das Spielsystem der anderen Mannschaft diskutieren. Wenn du gewinnen willst, konzentriere dich auf dich und zwinge dem Gegner dein Spiel auf. Nicht umgekehrt.
Trotzdem steckt die CDU gerade in einem Dilemma: Sie ist Opposition und hat ständig eine zweite neben sich, die erklärt, sie würde das alles noch entschiedener tun. Wie damit umgehen?
Da bin ich eher kein guter Gesprächspartner, ich kenne das Dilemma in der Opposition nicht aus eigenem Erleben. Aber erahnen kann ich es. Die Opposition muss den Bürgern eigentlich immer einen eigenen Gesetzentwurf, eine möglichst bessere eigene Lösung präsentieren und gegen das Angebot der Regierung stellen. Aber das klingt viel leichter als es ist. Als Oppositionspartei ohne Ministerien im Rücken hast Du vielleicht eine Handvoll Fachpolitiker, und die haben jeweils ein paar wissenschaftliche Mitarbeiter in ihren Büros. Das war's. Im Vergleich zur Wucht eines Bundesministeriums mit all den Gutachtern, Sachverständigen und Beratern ist das wie David gegen Goliath. Aber es kann gehen, sage ich mal als SC Freiburg-Anhänger.
Es gibt eine ziemlich aufgeheizte Diskussion übers Gendern. In der CDU und anderswo stört viele die Vehemenz. Aber wenn Friedrich Merz es thematisiert, wie er es thematisiert, kommt sofort der Vorwurf: Aha, ihr seid auf dem Trip der AfD. Was macht man in so einem Fall?
Man thematisiert es und sagt doch gleichzeitig, dass es so wichtig nicht ist. Im Grunde gibt es zwei Antworten. Antwort eins sieht man hier im Freistaat.
Inwiefern?
Wir haben das Thema abgeräumt. Es gibt eine klare Haltung der Staatsregierung. Wir machen das, was in der deutschen Sprache den aktuellen Rechtschreibnormen entspricht und das steht auch so in unserer Verwaltungsvorschrift. Meine Damen und Herren, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Keine Sternchen, keine Unterbrechungen, wir orientieren uns am Rat für deutsche Rechtschreibung. Das sind hochmögende Sachverständige. Zu Recht. Punkt. Es gibt darüber keinen Streit. Und solange ist es auch kein Thema für Rechtsaußen, und wenn doch, reagiere ich nicht darauf.
Und die zweite Antwort?
Die ist viel genereller. Man kann in einigen europäischen Ländern beobachten, was passiert, wenn Mitte-links und links-orientierte Parteien glauben, es sei eine kluge Idee, die demokratisch konservative Partei, die ein gesundes Parteiensystem braucht, mutwillig kaputt machen zu wollen. Das ist in manchen Ländern einigermaßen gut gelungen. Was das zur Folge hat, kann man sehr genau erkennen: Es stärkt die Ränder, vor allem rechts.
Sprechen Sie auch von Thüringen?
In erster Linie von Italien oder Frankreich, die sind da schon weiter. Es gibt eine höhere Verantwortung, die ich auch meinen Mitbewerbern gegenüber empfinde. Ich habe mich gefreut bei meinem Abschied aus dem Bundestag, als mehrere Kolleginnen und Kollegen gesagt haben: Politisch ein harter Knochen, aber immer sportlich fair.
Und was heißt das für den Umgang?
Ich habe immer im Kopf: Mit wem muss ich Nationalmannschaft spielen können? Klar, will ich mit meinem Verein unbedingt gewinnen. Aber wenn es um die Nationalmannschaft geht, muss ich dort in der Lage sein, mit den Kontrahenten vom Samstag zusammenzuspielen. Übertragen auf die Politik: Ob Ampel, Kenia, ob Union – wir müssen respektvoll miteinander umgehen und uns nicht spalten lassen, schon gar nicht durch Parteien, die nichts Gutes für dieses Land im Schilde führen.
Mit der AfD nie in einer Mannschaft?
Niemals. Auch Friedrich Merz ist da sonnenklar und ihm ist zu verdanken, dass unsere konservative Mitte vital ist und steht. Trotzdem wird von Grünen und der SPD aber immer wieder versucht, die Union zu diskreditieren. Man kramt regelrecht in den Kommunalparlamenten Deutschlands herum und sucht händeringend einen, der mal was mit der AfD gemacht hat, um das Merz umzuhängen. Das ist ein perfides Spiel. Und ich will das umgekehrt nicht tun. Obwohl ich in der Lage wäre, Beispiele zu nennen, wo ich im Einzelfall Zweifel konstruieren könnte, ob die Brandmauer der SPD und der Grünen zum linksextremen Spektrum wirklich steht. Wohin sollten diese anhaltenden Fouls führen?
Na ja: sie haben die SPD jahrelang mit der Forderung nach Abgrenzung zur Linkspartei geärgert.
Das bleibt angesichts des Agierens von Teilen der Linken auch richtig. Es geht hier aber nicht um ärgern, es geht um mehr. Wir sollten aufhören, die Situation am linken Rand zu verharmlosen. Und meine Erwartung ist, dass wir das können, ohne dabei die Priorität für die Bekämpfung des Rechtsextremismus zu schwächen.
Perfide ist ein harter Vorwurf.
Stimmt. Aber ich halte es für bösartig, uns in der einen Woche vorzuwerfen, wir würden es nicht schaffen, am rechten Rand die AfD niederzuhalten – und uns in der anderen Woche mutwillig in die rechte Ecke zu drücken, wenn wir an der einen oder anderen Stelle deutlich konservative Positionen einnehmen, frei nach der Devise von Franz Josef Strauß, dass es rechts von uns keine demokratische Partei geben dürfe. Wir reden an dieser Brandmauer Klartext, eine Sprache, die ich sehr schätze, und das tun auch sehr viele Menschen hier im Freistaat. Da gibts eben keinen linksorientierten political correctness Sprachfilter, aber den ehrlichen konservativen Sachsen. Diese Menschen sind nicht rechts und deshalb werbe ich um sie. Aber wenn ich das tue, werde ich von den anderen Parteien links von uns quasi von hinten angegriffen: Schau her, der steht doch nicht. Und dieses Spiel, sich jede Woche rauszusuchen, mit welchem Vorwurf man uns und damit auch diese Bürger diskreditieren will, das gehört mit zur Frage: Wie macht man die AfD groß?
Gleichwohl gibt es in Sachsen Kreisverbände der CDU, in denen immer wieder Leute sagen: Warum nicht mit der AfD? Wäre doch viel einfacher als mit den Grünen. Trotzdem sind Sie sich sicher, dass die CDU in Sachsen niemals mit der AfD koalieren wird?
Ja. Absolut.
Warum?
Weil ich, egal, wo ich in der Partei hinkomme, dieses Gefühl spüre. Ich erlebe die Stimmung an der Parteibasis, in der Fraktion, im CDU-Teil des Kabinetts, im Landesvorstand. Ich nehme Schwingungen wahr, spüre, was los ist. Aber die gehen überhaupt nicht in diese Richtung.
Ist das Strategie oder Haltung?
Eine Haltungsfrage, ganz klar. Hier in Sachsen spürt man die extreme Ader der AfD besonders. Wir sind hier nicht in einem harmlosen Landesverband. Hier erlebt man Höcke offen auf den Marktplätzen. Wir haben hier offene oder subtile Kooperation der AfD mit rechtsextremen Kleinstparteien. Verstrickungen ins Reichsbürgermilieu und dort gab es ja immerhin Festnahmen wie im Erzgebirge. Wir haben dieses völkische, antisemitische, nationalistische Auftreten, also all das, was die AfD im Bund zum Verdachtsfall macht. Das spüren die Menschen in diesem Landesteil besonders, weil die AfD hier besonders aktiv ist. Und dann gibt es da etwas, was mir besondere Sorgen macht.
Was?
Die Stärke der AfD resultiert aus meiner Sicht auch daraus, dass viele, die da jetzt virtuell ein Kreuzchen machen, ansonsten politisch nicht aktiv sind. Das sind keine Mitglieder einer Partei, das sind vielleicht auch nicht Menschen, die mit hohem Interesse die ersten fünf Seiten der Zeitung lesen. Wenn Du Dich aber nicht für Politik interessierst, ist es unheimlich schwer zu verstehen, dass es in einer hochentwickelten Wirtschaftsnation mit einer interkulturellen Gesellschaft keine einfachen politischen Lösungen geben kann.
Sprechen Sie die Nichtwähler-Mobilisierung der AfD an?
Nein. Was mich mehr beschäftigt ist die Konsequenz, die sich daraus ergibt, dass man die AfD halt mal aus Protest wählt. Ohne Erwartung. Mit dem Gefühl: da kann ja nix passieren. Die werden nie an die Regierung kommen. Einige wählen die ja vermeintlich auch mit Köpfchen. Dafür gibt es einen eindrücklichen Beleg. Eine Partei mit einer derartigen demoskopischen Zustimmung gewinnt trotz umfangreicher Kandidaturen bei den Kommunalwahlen in Sachsen nicht ein einziges Amt im gesamten Freistaat. Das ist wahl-mathematisch eigentlich kaum zu erklären.
Wenn Menschen der AfD ihre Stimme entziehen, sobald das Konsequenzen hätte - das kann Sie beruhigen.
Das beruhigt mich gar nicht. Hätte ich diese Wähler vor mir sitzen, würde ich ihnen sagen: Freunde, das ist High Risk, was ihr da macht. Wenn ihr das überzieht, dieses „ich will keinen Höcke als Minister, aber Denkzettel verteilen“ ist das Land für bürgerliche Koalitionen immer schwerer regierbar. Es scheint zu verlockend zu sein, den Etablierten mal einen Denkzettel zu verpassen, weil mit dem Denkzettel vermeintlich nichts passieren kann.
Wer ist verantwortlich dafür, dass das so verlockend geworden ist?
Wir alle in der Mitte. Es ist eine echte Herausforderung, Politik so rüberzubringen, dass wir die Menschen da erreichen, wo sie stehen, nicht, wo einzelne sie gerne hätten.
Obwohl sie so kompliziert ist.
Das ist sie. Und für die meisten Menschen wird es dadurch schwierig. Folgendes Beispiel, weil ich Autonarr bin: Früher habe ich die Motorhaube aufgemacht und konnte schon noch was verstehen und reparieren. Heute steht da virtuell: Lass bloß die Finger davon. Das plagt mich ein bisschen, aber mein Gott, was soll ich machen? Wenn Menschen aus dem Autohaus gehen und die Scheinwerfer nicht verstehen, sagen sie: Ich kann es dir zwar nicht erklären, aber wunderbar nutzen. Das machen die Menschen bei der Politik nicht. Das erlebt Habeck gerade. Über sein Ziel mit den Heizungen muss man vielleicht nicht mal so sehr streiten, aber sein Weg dahin ist zu überfordernd, zu kompliziert, zu wenig nachvollziehbar. Seine ganze Kommunikation war senderorientiert, die Bürger möchten aber abgeholt und mitgenommen, nicht missioniert werden. Ich kenne diesen Fehler als Quereinsteiger nur zu gut.
Also als Bundespolizist.
Genau. Als ich begann und das erste Mal kandidierte, bin ich von meinem Team gewarnt worden. Immer wieder. Ich hätte die Nominierung gar nicht geschafft innerhalb der Partei, wenn mir nicht ein paar Profis erklärt hätten: So redet man nicht. Sie halten einen Fachvortrag – brillant! Aber wenn Sie die Leute erreichen wollen, müssen Sie es ganz anders machen. Die Menschen müssen eine politische Botschaft auf der Stelle auch verstehen, akzeptieren und verdauen können. Gelingt uns das nicht, verlieren wir sie. Die sagen dann: Gehts noch? Gendern? Meinen Kindern keinen Indianerschmuck mehr anziehen? Frisuren werden zum Politikum? Und wann ich meine Heizung wie austausche, legt jetzt Habeck fest? Es herrscht zunehmend eine extreme Stimmung, beim Sender wie Empfänger und da fällt die Union etwas durch, sie ist keine extreme Partei und das hat uns erfolgreich gemacht. Ich glaube, dass wir mit unserem Maß-und-Mitte-Kurs auf manche Wähler gerade nicht extrem genug, vielleicht sogar zu langweilig wirken. Sie wollen aber auf die Bundesregierung extrem antworten und machen deshalb vermehrt ein extremes Kreuzchen, meinen aber damit nicht, dass demnächst Frau Weidel Bildungsministerin und Herr Höcke Innenminister werden sollen.
Was soll es heißen, wenn Ihr Ministerpräsident Michael Kretschmer über das Asylrecht reden will? Verstehen Sie, dass das schnell nach AfD klingen kann?
Ich bin 62, also auf der Zielgeraden meines Berufslebens. Da hat man Orientierungspunkte, die sich immer weniger von Mitbewerbern ergeben und schon gar nicht von der AfD. Ich orientiere mich weitgehend am Alltag und meinen Leuten. Und da sehe ich beim Thema Migration total überforderte Verwaltungen, Landkreise und Kommunen. Ich kann keinen Bogen darum machen, nur weil eventuell Medien oder Opposition sagen: Der Schuster macht AfD. Für mich ist es geradezu eine Beleidigung, wenn Sie mir sagen, ich würde mich an dieser Partei anlehnen. Wir haben unsere Anstrengungen für die Asylerstaufnahme auf beinahe 10.000 Plätze hochgefahren. Wissen Sie, was das heißt? Das musst du bezahlen und organisieren können und genau so geht es jedem Landkreis, jeder Kommune. In Dresden bauen sie Containerdörfer, in Leipzig Zelte. Dazu kommt: Keine Maßnahme der Bundesregierung zeigt irgendeine Wirkung. Und wir stehen jetzt erst vor den zugangsstärksten Monaten.
Trotzdem: Was will Kretschmer?
Das Richtige: Wir brauchen eine grundsätzliche Neubetrachtung des Themas Migration und können dabei möglicherweise auch die Verfassung nicht außen vor lassen. Aber das ist nicht der erste Schritt. Er möchte etwas Vergleichbares für die Flüchtlingspolitik wie wir es mit der Zukunftskommission in Sachen Kernkraft gemacht haben. Alle gesellschaftlich wichtigen Akteure an einem Tisch, und alle diskutieren ohne sofortigen Beschluss einmal ganz offen und hart, was nötig und was möglich ist. Was spricht da eigentlich dagegen? Nur so könnten wir die Debatte einerseits erkennbar führen und andererseits kanalisieren, ohne dass andere davon dauernd Besitz ergreifen. Wir würden alle strittigen Punkte auch über den parteipolitischen Diskurs hinaus führen, ob zu Obergrenzen, sicheren Herkunftsländer, Sozialstandards oder Finanzfragen. Es geht um einen gesellschaftlichen Konsens zu Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft.
Und was ist Ihr Ziel?
Ich glaube, die Formel aus liberalstem Asylsystem, Europas höchsten Sozialstandards und praktisch kaum noch Rückführungen geht nicht auf. Das muss neu justiert werden. Die Forderung nach Grenzkontrollen gehört da ausdrücklich nicht rein. Die wäre, wenn Sie so wollen, der Befund am Ende: Nichts geht mehr.
Deswegen sprachen Sie von einer Lösung, die Sie hassen?
Ja, weil es bedeuten würde, dass das Schengen-System gescheitert ist. Soweit darf es nicht kommen. Ich bin von Schengen völlig überzeugt. Ich habe es in bescheidener Rolle mitentwickelt, mitgeschrieben, mitaufgebaut. Ich habe unzählige Grenzen abgebaut und genieße diese Freiheit in Europa, ohne unsere Sicherheit zu gefährden. Grenzkontrollen sind für mich Ultima Ratio, wenn alles andere nicht wirkt. Ich opfere mit dieser Forderung ein Stück weit auch meinen Ruf. Ich mache es, um mit dieser eigentlich rückständigen Methode allen zu verdeutlichen: Wenn ihr euch jetzt in der Bundesregierung und in Brüssel nicht zusammenreißt, ist es das Ende von Schengen und die Rückkehr der Schlagbäume.
Sind Sie zufrieden mit dem, was jetzt in Luxemburg erstmal beschlossen wurde?
Der Asylkompromiss ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, um eine Reduzierung der Zahl der ankommenden Flüchtlinge zu erreichen. Es ist unabdingbar, zwischen tatsächlich Schutzbedürftigen und Personen ohne Bleibeperspektive zu unterscheiden und die Schutzbedürftigen besser in Europa zu verteilen. Gleichzeitig wird hierdurch der EU-Außengrenzschutz nachhaltig verbessert. Durch diese Lösung wird das Europa der offenen Grenzen bewahrt, dass wir alle so wertschätzen. Die EU-Innenministerinnen und -minister haben damit den Einstieg in eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geschafft. Die Vereinbarung erkennt den hohen Migrationsdruck an, der auf ganz Europa lastet. Gleichzeitig stellen wir so künftige Aufnahmekapazitäten für diejenigen sicher, die unseren Schutz und unsere Unterstützung brauchen.
Jetzt geht es in die Verhandlungen mit dem EU-Parlament – und die Bundesregierung will nachverhandeln. Unterstützen Sie das?
Dieser Kompromiss darf jetzt nicht in den anstehenden Trilogverhandlungen zwischen EU-Parlament, Rat, und Europäischer Kommission gefährdet werden, so dass ein Inkrafttreten im Frühjahr 2024 mit den gestern beschlossenen Inhalten erfolgen kann. Insbesondere Deutschland darf jetzt angesichts der kritischen Kommentare aus einzelnen Ampel-Parteien nicht quer stehen, sondern muss Vorreiter sein.
Nochmal zur Drohung mit Kontrollen: Als einstiger Bundespolizist wissen Sie, wie viel Einsatz das erfordern würde. Ist es das wirklich realistisch?
Ich gehe nicht davon aus, dass die Grenzkontrollen lange bleiben, weil ich darauf hoffe, dass Schengen revitalisiert wird. Aber unterschätzen Sie mal nicht die Bundespolizei und die Signalwirkung. Der tschechische Innenminister hat uns gerade von den Grenzkontrollen und der wunderbaren Wirkung an der slowakischen Grenze erzählt. Es wirkte sofort. Die Zahlen sind drastisch runtergegangen. Das hat auch Frau Faeser gelobt.
Es gibt allein im Personenverkehr zwischen Sachsen und Polen acht Grenzen. 24 Stunden am Tag. Wie soll das gehen?
Ich möchte jetzt keine Grenzkontrollen, um durch die Hintertür alles Mögliche damit zu bekämpfen. Nach dem Motto: Offiziell machen wir Asyl, aber in Wirklichkeit geht es auch um Rauschgift, KFZ-Verschiebung undundund. Die Schleierfahndung ist für die meisten dieser Phänomene weiterhin wirkungsvoll. Es geht jetzt um gezielte Kontrollen in Verdachtsfällen von illegaler Einreise und Schleusung. Erfahrene Beamte wissen, worauf sie achten müssen. Deshalb werden die meisten Fahrzeuge gar nicht kontrolliert, nur die Verdächtigen werden aus dem fließenden Verkehr herausgewunken. Was ich möchte, macht die Bundespolizei in Bayern seit September 2015 erfolgreich.
Warum können die das und Sie nicht?
Die Entscheidung liegt in dieser Frage immer beim Bund. Die Zugangszahlen aus Polen sind in Brandenburg und Sachsen aber gerade fast doppelt so hoch wie in Bayern – ohne die ukrainischen Staatsangehörigen. In Bayern macht die Bundespolizei das an wenigen großen Grenzübergängen, und auch nicht 24 Stunden. Die stehen auch mal an einem kleineren Übergang, und das im Wechsel mit der Fahndung im 30-Kilometer- Bereich hinter der Grenze. Das ist ein hochflexibles System. Es muss unberechenbar sein. Mit dieser Methode hat man in Bayern letztes Jahr 14.700 Zurückweisungen ausgesprochen. Unsere Forderung an die Bundesregierung steht jedenfalls in dieser Frage.
Warum sollten Schleuser im Falle von Grenzkontrollen nach Polen nicht einfach über Tschechien ausweichen, um nach Sachsen zu gelangen?
So sieht das der Fachmann oder die Fachfrau. Wir haben gleichwohl wegen der aktuell niedrigeren Zahlen an der Grenze zu Tschechien der Bundesinnenministerin ein vermittelndes Angebot gemacht, Tschechien nein, Polen ja. Auch das lehnt sie ab.
Ist die Uneinigkeit ein Musterbeispiel dafür, wie man der AfD durch Streit hilft?
Es ist ein Musterbeispiel dafür, warum man eine Kommission bräuchte. Wir müssen das Parteien-Klein-Klein überwinden. Säßen da jetzt Migrationsexperten, Polizeien, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen, kommunale Spitzenverbände, die Länder und der Bund zusammen – das war der große Wert der Kohlekommission –, dann könnten sie den polarisierten parteipolitischen Konflikt entschärfen. Für die Parteien wäre es dann schwer, sich einer solch quasi gesamtgesellschaftlichen Lösungsformel zu entziehen.
Was meinen Sie damit?
Dass ich im Grunde meines Herzens für alle, die wirklich in Not sind, in der Lage sein will zu helfen. Ich will das. Aber das verlangt, dass wir dort, wo Menschen es nicht absolut brauchen, auch härter sind. Nehmen Sie Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten. Für diese Länder brauchen wir klare Möglichkeiten zur Fachkräfteeinwanderung und zur Rückführung von Gewalttätern. Aber wir brauchen hier weitestgehend keinen Asyl- oder Flüchtlingsschutz. Das müssen wir besser trennen, um auf der humanitären Seite so großzügig sein zu können, wie ich mir das wünsche. Nehmen Sie nur aktuell die Menschen aus dem Sudan.
Wie lesen Sie die Proteste in Leipzig am vergangenen Wochenende?
Ich dachte, ich hätte an dieser Flanke weitgehend Ruhe, jedenfalls lief das vergangene Jahr relativ ruhig. Wenn über Linksextremismus in Deutschland gesprochen wird, hieß es bisher immer Berlin, Hamburg, Leipzig. Aus der Ferne betrachtet wunderte ich mich immer, dass diese Rituale in schöner Regelmäßigkeit stattfinden können. Das geht mit meinem Koordinatensystem nicht zusammen. Ich kam hier an und dachte, ich habe im Leipziger Süden ein Problem. Dann haben mir meine Mitarbeiter beigebracht: Wir sind auf einer guten Linie, haben eine gute Strategie und derzeit Ruhe. Das habe ich zwölf Monate erlebt. Und dann kam dieses letzte Wochenende. Ich möchte nicht in diese alten Chaostage zurück. Aber wir hören in die Szene rein – und was wir hören, klingt nicht gut.
Aus Wut auf den Polizeieinsatz am Wochenende?
Nein. Die Szene beurteilt ja sich selbst: Wie gut haben wir das gemacht? Viele sind sehr ernüchtert. Und das ist nicht ungefährlich.
Und jetzt?
Wir haben eine Aufgabe. Wir können es uns nicht leicht machen und sagen: Na ja, die sind ja alle von auswärts gekommen. Ich sehe drei Kreise, die sich zunehmend überschneiden. Eine politische Szene links, die für sich betrachtet eigentlich unproblematisch wäre. Ich hatte auch erwartet, dass diese Leipziger Szene sich distanziert und sagt: Leute, bleibt hier weg mit euren militanten Aktionen. Aber: Erstens hat das nicht stattgefunden, und zweitens hatten relevante Akteure aus Leipzig auch noch tragende Rollen. Damit kommt die Überschneidung mit dem zweiten Kreis. Das sind 10.000 Autonome in Deutschland, von denen einige angereist waren, andere kommen aus dem Leipziger Umfeld. Zum dritten Kreis gehört die gerade verurteilte Lina E. mit ihrer Gruppe, wegen derer die Aktionen in Leipzig ja stattfanden. Und noch viel relevanter: die Abgetauchten. Diese Gruppe ist größer geworden und professionell abgetaucht, also mit Verwischen der Spuren.
Wie groß ist Ihre Sorge?
Erheblich. Wer abtaucht und vollkommen klandestin lebt, wird sich erfahrungsgemäß weiter radikalisieren. Diese Gefahr besteht, deshalb will ich das frühzeitig zum Thema in der Innenministerkonferenz machen.
In Leipzig gab es den Vorwurf, die Polizei habe Grundrechte verletzt. War das klug?
Das werden wir sauber aufarbeiten und im Landtag Rede und Antwort stehen. Ich möchte aber zumindest darauf verweisen, dass es im Grundgesetz keinen Artikel gibt, wo steht, dass man sich unfriedlich und mit Waffen versammeln darf. Es gab ja von Aktivistenseite die Ankündigung, für jedes Jahr Haftstrafe im Verfahren Lina E. eine Million Euro Sachschaden verursachen zu wollen.
Die Legislatur endet in 15 Monaten. Werden Sie für den Landtag kandidieren?
Ein Landtagsmandat ist schon richtig für einen Minister. Ich habe mir aber selbst Regeln gegeben, die nicht ganz einfach erfüllbar sind. Die CDU Sachsen hat gerade zum Glück kein Kandidaten-Problem. Meine Maxime ist: Eher endet meine Arbeit Ende kommenden Jahres hier, als dass ich gegen jemanden aus der heimischen CDU antrete. Die sächsische Union hat mir als Nicht-Sachse schon viel Vertrauen entgegengebracht. Wenn ich jetzt auch noch mit der Wucht eines Ministeramtes nach einem Wahlkreis greife und Leute aus unserem Team verdränge, wäre das einfach nicht in Ordnung. Meinen Bundestagswahlkreis habe ich mir seinerzeit per Kampfkandidatur erkämpft. Ich weiß, was das verursacht. Und dort war ich Einheimischer.
Also nein?
Abwarten, wenn ich irgendwo einziger Kandidat wäre, die CDU dort an mir interessiert wäre und das regional auch authentisch ist, schließe ich nichts aus.
Was ist mit der Liste?
Hab ich noch nie gemacht, immer Sekt oder Selters. Dabei bleibe ich.
Sie haben am Anfang gesagt, dass es nicht leicht war, als Wessi in Sachsen Vertrauen zu gewinnen. Ist es nach einem Jahr besser geworden?
Ja, deutlich. Ich spüre noch das, was hier wahrscheinlich jeder Wessi spürt. Aber Entschuldigung, das habe ich auch als „Saupreiß“ in Bayern, Südlicht in Schleswig-Holstein oder Gelbfüssler in der Pfalz gespürt. Damit kann ich relativ gut umgehen. Ich war schon wahnsinnig oft der Neue in der Klasse. Kann’s nicht anders sagen, fühle mich sauwohl hier, und das gilt auch für Frau Schuster.