Was hatten sie nicht alles versprochen. Der Kanzler, der Vizekanzler, der FDP-Bundesfinanzminister – sie alle kündigten in den vergangenen Wochen an, dass man verstanden habe. Aus jeder Partei der Ampel drang nach dem vermaledeiten Ende der ersten Jahreshälfte eine Botschaft der Vernunft nach außen. Sie sollte signalisieren: Wir werden es besser machen.
Wann genau der Koalition diese Vernunft im jüngsten Streit um Wachstumschancengesetz und Kindergrundsicherung abhandenkam, ist schwer zu rekonstruieren; warum es geschah, lässt sich dagegen ziemlich gut erklären. Und dabei spielen nicht nur die Tage vor dem Clash eine wichtige Rolle. Will man wirklich verstehen, welche Kräfte da am Werk waren, gehören die letzten zwölf Monate mit in die Betrachtung.
Die einfache Erzählung lautet: Das Kabinett hatte das neue Wachstumschancengesetz quasi schon beschlossen, dann grätschte die Bundesfamilienministerin Lisa Paus dazwischen, legte Einspruch ein und wurde für das Gros im Kabinett zur Spielverderberin. Richtig daran ist, dass Paus (und Umweltministerin Steffi Lemke) sich gegen das Gesetz des Finanzministers stellten. Falsch ist der entstandene Eindruck, das Paus-Manöver sei gekommen, als die Sache eigentlich schon beschlossen gewesen sei.
Zur Geschichte gehört, dass zunächst alle grün-geführten Ministerien einen Leitungsvorbehalt eingelegt hatten, weil sie die Ursprungsform des Wachstumschancengesetzes abgelehnt hatten. Dann hatte es Verhandlungen zwischen dem BMWK von Robert Habeck und dem BMF von Christian Lindner gegeben, erst nach Änderungen (für mehr degressive Abschreibung, gegen einen allgemeiner wirkenden Verlustvortrag) hatte das Habeck-Haus Zustimmung signalisiert und den Leitungsvorbehalt zurückgezogen. Ebenso das Landwirtschaftsministerium von Cem Özdemir.
Paus dagegen hatte an ihm festgehalten, trotz der Argumente und der Empfehlung aus dem BMWK, die Kindergrundsicherung nicht gegen die Wirtschaftsförderung in dieser Frage in Stellung zu bringen. Eine letzte Runde im Streit sollte es – wie üblich – bei der Staatssekretärsrunde am Montagabend geben. Davor aber geschah etwas, was man auf grüner Seite als Provokation lesen konnte.
Obwohl erkennbar war, dass zwei der vier grünen Ministerien noch kein Ja ausgesprochen hatten, lud das Bundesfinanzministerium schon am Montagmittag zur Pressekonferenz des Ministers am Mittwoch ein. Wäre alles klar gewesen, hätte daraus schwerlich etwas Konfliktträchtiges entstehen können. Aber weil es mit Paus noch keine Einigung gab, wurde das Vorgehen des Finanzministeriums mindestens bei Teilen der Grünen als Affront empfunden.
Und das umso mehr, weil zur Koalitionsgeschichte im ersten Halbjahr gehört, dass es bei zahlreichen Vorhaben etwa des grünen Landwirtschaftsministers immer wieder Leitungsvorbehalte verschiedener FDP-Ministerien gegeben hatte – mit der formal logischen Folge, dass diese Gesetzesvorhaben so lange nicht ins Kabinett kamen. Im aktuellen Fall tat ausgerechnet das FDP-geführte BMF so, als spiele derlei quasi schon keine Rolle mehr.
Mehr noch: Bei vielen Grünen, unter anderem in der Bundestagsfraktion, wurde die Einladung zur PK als zusätzliches Zeugnis eines aus Sicht der Grünen schon unverschämten Selbstbewusstseins der FDP gelesen. Ein Gefühl freilich, das seinen Ursprung nicht im Konflikt um dieses Gesetz hat, sondern spätestens seit Januar diesen Jahres entstanden und stetig gewachsen ist.
Hier kommt der Umgang der FDP mit dem Gebäudeenergiegesetz ins Spiel. Die garstigen Vokabeln mancher Liberaler gegenüber dem Gesetz und dem zuständigen Minister hatte im Frühjahr zu einem tief sitzenden Misstrauen gegenüber der FDP geführt. Die Grünen-Spitze wollte ihm für den Neustart in diesem Herbst nicht mehr so viel Bedeutung beimessen. Klar aber war, dass es nicht viel brauchte, um den Ärger der Grünen über die Liberalen neu zu befeuern. Exakt das geschah mit dem Verhalten des Finanzministers.
Mit einer eindeutigen Folge: Für einen erheblichen Teil der Grünen-Fraktion und der grünen Basis war ein Punkt erreicht, an dem man den gefühlten Unverschämtheiten der FDP etwas entgegensetzen musste. Manche Grünen, darunter mehrheitlich Vertreter des linken Flügels, sind schon seit Wochen, ja Monaten frustriert über die Lage in der Koalition. Sie hatten zuletzt eigentlich schon darauf gewartet, der FDP mal mit ähnlicher Münze heimzuzahlen.
Das erklärt am besten, warum Paus davon ausgehen konnte, für ihr Vorgehen Unterstützung zu finden. Es dauerte zwar bis zum nächsten Morgen, und öffentlich äußerten sich zunächst vor allem Politikerinnen und Politiker, die nicht in der ersten Reihe Verantwortung tragen, darunter Jürgen Trittin. Aber wer in die Fraktion hineinhörte, registrierte rasch, wie groß die Genugtuung bei denen war, die sich seit Monaten durch die heiklen und schmerzhaften Kompromissdebatten geschleppt haben. Ihr vorläufiges Fazit: Endlich lassen wir uns von der FDP nicht mehr alles gefallen; endlich hat mal jemand Nein gerufen, anstatt gefühlt in jeden Kompromiss einzuschlagen; und endlich hat es eine grüne Ministerin geschafft, sich im Kampf fürs Soziale in der Republik bekannt zu machen.
Dass zu diesem Teil der Partei auch Außenministerin Annalena Baerbock gehört, ist intern unstrittig. Auf öffentliche Äußerungen aber hat Baerbock verzichtet. Dass ihre stille Unterstützung gleichwohl die Runde machte, zeigt umso mehr, wie sehr der Wettstreit um die nächste Spitzenkandidatur hinter den Kulissen voll entbrannt ist.
Der trotzigen Revanche-Stimmung steht mahnende Sorge gegenüber. Da rasch bekannt wurde, wo der Wirtschaftsminister in diesem Konflikt steht, konnte jeder innerhalb und außerhalb der Grünen erkennen, dass die Partei zerrissen ist zwischen den Regierungspragmatikern um Habeck und den Trotzigen um Paus.
Für den Vizekanzler ist das kein gutes Zeichen; Paus’ Aktion hat prompt Zweifel an Habecks Führungsqualitäten aufkommen lassen. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem er nach dem heftigen Streit ums Heizungsgesetz und die Affäre um Patrick Graichen alles daran gesetzt hatte, verloren gegangenes Vertrauen in seine Person und seine Politik zurückzugewinnen. In der Partei, aber noch mehr in der Öffentlichkeit.
Dabei setzt Habeck auf eine Öffentlichkeitsarbeit, die Zugewandtheit, Zuhören, Pragmatismus und Kompromissbereitschaft betont. Und das aus einem Grund: Am Ende dieser Legislaturperiode wird die Frage stehen, ob ein grüner Wirtschaftsminister das Land tatsächlich gut durch Krisen und große Umbauten führen kann. Dabei geht es um Vertrauen, nicht nur bei den Grünen und an der Basis, sondern auch dort, wo die Zukunft zur Zeit besonders hart erkämpft werden muss: bei Mittelständlern, in Unternehmen, bei Handwerkern. Kurz: in der Wirtschaft.
Umso schmerzhafter ist aus Sicht von Habeck der Eindruck, dass es kein echtes Machtzentrum mehr bei den Grünen gibt. Dass diese Gefahr bei fünf Ministerinnen und Ministerin und dazu zwei Doppelspitzen in Partei und Fraktion existiert, war allen frühzeitig klar; dass das Gefüge ausgerechnet jetzt instabil wirkt und kein ordnendes Zentrum vorhanden ist, erhöht für die Grünen die Gefahren.
Und die SPD? Wirkte genervt. Kanzleramt und Kanzler sahen den Vollstopp offenbar nicht kommen, obwohl sie Paus’ Gesetzentwurf auf dem Tisch hatten. Ganz offensichtlich glaubte Chef-Koordinator Wolfgang Schmidt, mit dem Plazet des Wirtschaftsministeriums und damit des Vizekanzlers habe er die Zustimmung aller grünen Ressorts. Und ganz offensichtlich verkannte er die Stimmungslage – den Frust, den Zorn, die „Schnauzevoll“-Befindlichkeit im grünen Lager. Den Frust über eine SPD, die mal wieder die Rolle des Unparteiischen einnimmt, wenig engagiert am Spielfeldrand steht, obschon sie sich doch selbst die Kindergrundsicherung auf die Fahnen geschrieben hatte. Vor allem verkannte Schmidt den verbreiteten Zorn über eine FDP, für die das Ausbremsen von Grünen-Gesetzen schon Alltag geworden ist. Selbst wenn sie im Koalitionsvertrag stehen.
Natürlich waren die Umstände unglücklich: Der Wirtschaftsminister im Urlaub, das Familienministerium in der Staatssekretärsrunde am Montag nicht vertreten, Ministerin Paus auf Sommerreise, die sie dann überstürzt abbrach. Aber ist das eine hinreichende Erklärung?
„Fassungslos“ sei er, gab Co-Parteichef Lars Klingbeil zu Protokoll. Aufgabe der Regierung sei es in dieser Situation, Sicherheit, Stabilität und Orientierung zu geben: „Ich dachte eigentlich, dass das alle verstanden haben.“ Die Urheber der neuerlichen Krise stehen für ihn fest. Zitieren ließ er sich aber nur mit einer „klaren Erwartung, dass bei der Klausur in Meseberg über die Zusammenarbeit und Wirtschaftspolitik geredet wird“. Aber auch Klingbeil weiß, dass der Start in die zweite Halbzeit der Legislaturperiode gründlich misslungen ist – und dass die Rolle des Mahners und Schiedsrichters der SPD wenig nützt.
Was auch zum Unmut der Genossen beiträgt: Auch sie, bis hin zu Olaf Scholz, waren immer Anhänger der Kindergrundsicherung. Nur gemerkt hat es kaum jemand. Im Mittelpunkt der Debatte um die Kindergrundsicherung stand immer die grüne Ministerin. Dass ausgerechnet sie sich jetzt als Vorkämpferin für Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich präsentiert und sich das auch noch von einer fundierten Studie attestieren lässt, wurmt nicht wenige Sozialdemokraten. Die Kompetenz für soziale Themen reklamieren sie nach wie vor für sich.
Nun ist Führung gefragt, Ordnung und Vertrauen. Und ein Kanzler, der in der Koalition nach innen wirkt. Der die teils sehr unterschiedlichen Bedürfnisse und Empfindlichkeiten aufnimmt und ins Positive zu wenden vermag. Der es schafft, die Streitparteien wieder zu jenem Aufbruchsgeist zu verpflichten, der die Koalitionsverhandlungen umwehte. Der Kompromisse schmiedet und immer mal wieder den Korridor in Erinnerung ruft oder auch neu definiert, auf dem die Koalition unterwegs sein wollte.
Denn daran hapert es. Nimmt man die öffentliche Wahrnehmung der jüngsten Ereignisse, hat die Koalition fürs Erste das wiederholt, was sie unbedingt verhindern wollte: Sie präsentiert sich schon wieder als zerstrittene Truppe. Und das bei einer wachsenden Grundskepsis in der Bevölkerung.
Die Folgen in den Umfragen sind bekannt: die AfD kann das für sich nutzen. Und das vor zwei wichtigen Landtagswahlen in diesem Herbst und einem Wahljahr 2024, das es für die Ampel-Parteien noch viel mehr in sich haben könnte. Auf die Europawahl im Frühjahr folgen drei Landtagswahlen im Osten Deutschlands. Eigentlich müsste jeder und jedem in den drei Parteien klar sein, dass das vor allem Einigkeit verlangen würde. Gelungen ist ihnen das trotzdem nicht.