Analyse
Erscheinungsdatum: 03. September 2024

Olaf Scholz und der heimliche Wunsch nach einer Alternative

Zwischen Ratlosigkeit und Verzweiflung – die Sozialdemokraten hadern mit ihrem Kanzler. Plötzlich ist der „Kamala-Harris-Effekt" ein Thema. Ob sie noch einmal mit Olaf Scholz in eine Wahl gehen? Verlassen sollte er sich darauf nicht.

Zu einer Wahlparty hatten die Hüter des Willy-Brandt-Hauses am vergangenen Sonntag gar nicht erst geladen. Sie ahnten wohl: Zu feiern gibt es nichts. Zu holen war in Sachsen und Thüringen in den vergangenen 32 Jahren zwar noch nie etwas – aber die 6,1 Prozent in Thüringen markierten einen vorläufigen Tiefpunkt. Auch die 7,3 Prozent in Sachsen waren das schlechteste Ergebnis seit 1990. Zu beschönigen gab es also nichts. Und so nahm auch niemand in Berlin die SPD-Landespolitiker, in beiden Ländern immerhin in Regierungsverantwortung, in die Pflicht. Das Ergebnis habe „klare Botschaften an die Bundespolitik gegeben“, konstatierte Generalsekretär Kevin Kühnert.

Vermutlich ist es nicht nur die Bundespolitik. Vermutlich wurzelt das Problem tiefer. „Einen Aufschrei der Unterschichten“, identifizierte der Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder in einer ersten Wahlanalyse. Beträchtliche Teile der Ost-Gesellschaft – Schröder spricht von einem „sozialstrukturellen Unterbau“ – fühlten sich von den etablierten Parteien in Sprache, Themen und Kultur nicht mehr repräsentiert. Antworten darauf hat die SPD bisher nicht.

Öffentlich und nach draußen mochte in den Stunden nach der Auszählung die Scherben niemand zusammen kehren, aber intern ist man sich in den Führungsbüros von Partei und Fraktion einig: So wird das nichts mit einer Fortsetzung der Kanzlerschaft im Herbst 2025. Die Performance der Regierung, die Führungsqualitäten des Kanzlers, die Arbeitsergebnisse, die inhaltlichen Botschaften – nichts stimmt, nichts passt zusammen, nichts überzeugt mehr in dieser Koalition. „Wir sind in einer Staatskrise“, bekennt ein Führungsgenosse, nimmt dafür aber ausdrücklich alle Parteien in die Verantwortung. So kommt es, dass die Ersten sich bereits die sehr grundsätzliche Frage stellen: Überlebt die SPD als Partei die Kanzlerjahre von Olaf Scholz?

In der Fraktion erregt die Arbeitsweise der Regierung jedenfalls offenen Zorn. Anfang Juli hatten Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner einen Haushalt vorgestellt, sechs Wochen später noch einmal nachgebessert und dann dem Bundestag einen Entwurf hingeschoben, der fast zehn Milliarden Euro an ungedeckten Schecks enthält. Nach dem Motto: Sollen doch die Haushälter der Ampel schauen, wie sie die Sparoperation hinbekommen. Klar ist nur: Steuern und Abgaben dürfen nicht erhöht, Subventionen nicht gestrichen werden.

„Und auch sonst passt nichts zueinander“, zürnt ein Vordenker der Fraktion. Eine schmale Kindergelderhöhung trifft auf die Ankündigung einer wuchtigen Anhebung von Krankenkassen- und Pflegebeitrag. Ein selbsternannter Friedenskanzler rühmt sich gleichzeitig, einer der aktivsten Unterstützer der Ukraine zu sein. Bei den Abschiebungen nach Afghanistan heißt es lange „leider nicht möglich“, dann geht es – nur wenige Tage nach der Mordtat von Solingen – plötzlich doch ganz schnell. Über ein Jahr lang kommen die Koalitionäre beim Waffenrecht nicht voran – und dann doch innerhalb weniger Tage. Wo ist da eine Linie, wo ein Konzept erkennbar? Wie soll man das nach außen vermitteln?

Im Parteivorstand am Montag kamen die Ungereimtheiten offen zur Sprache. „Dieser Haushalt konterkariert doch alles, was wir draußen erzählen“, soll Fraktionsvize Matthias Miersch gesagt haben. Die Widersprüche seien „zu offensichtlich“. Ein anderer Genosse wird mit der Bemerkung zitiert, er komme sich vor „wie auf einem sinkenden Schiff“.

Kern der Kritik sind nicht die einzelnen Argumente oder Aktionen. Die Kritik richtet sich gegen die Ungleichzeitigkeit von Argument und Tat beziehungsweise die wiederholten jähen Kurswechsel, die dann nur noch schwer begründbar sind, schon gar nicht für die Genossen, die ihre Bundesregierung in den Wahlkreisen erklären sollen. Positionsveränderungen, Nachbesserungen, Kurskorrekturen – nichts davon ist ungewöhnlich im politischen Geschäft, ja, sie gehören zum alltäglichen Instrumentarium. Aber wenn sie zur Selbstverständlichkeit werden, geht irgendwann der Glaube an Führungsqualität und Staatskunst verloren. Und so weit sind inzwischen viele in der SPD; viele, die unlängst noch hochloyal waren.

Sie sehnen sich nach Steuerung. Und nach Orientierung. Nach Führung. Nach einem Konzept und einem Rahmen für diese Gesellschaft. Dazu waren in den vergangenen zwei Jahren weder Koalition noch Kanzler, zu sehr mit sich und aktuellen Herausforderungen beschäftigt, auch nur ansatzweise in der Lage. „Die Leute wollen doch wissen: Wie sehen die nächsten Jahre aus?“, sagt auch der ehemalige Parteivorsitzende Matthias Platzeck.

„Wir brauchen den Mut, unsere Lage ehrlich zu beschreiben, postete der Innen-Staatssekretär Mahmud Özdemir auf Facebook. „Es ist für mich unfassbar“, notierte der langjährige Abgeordnete Axel Schäfer in einem öffentlichen Brief, wie das Ja zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland von Kanzler und SPD-Präsidium kommen konnte. Ohne Debatte, ohne Ankündigung, mitten in der Sommerpause. Und das bei einem Thema, das für die Sozialdemokraten seit den 1980er Jahren ein eher heikles ist. „Da sind sicher Fehler gemacht worden“, räumte die Co-Vorsitzende Saskia Esken später ein.

Es sind zu viele Fehler geworden, hektisch getroffene Entscheidungen, schlecht kommuniziert, widersprüchlich. „Ich weiß nicht, ob Olaf Scholz und Wolfgang Schmidt wissen, wie dünn die Schicht noch ist“, sagt mahnend ein langjähriger Abgeordneter. Hinweise, Erinnerungen und wohlmeinende Ratschläge gebe es genug. Aber vielen erscheinen Kanzleramt, Kanzler und Vertraute wie eine Betonburg, undurchdringlich, abgeschottet, abweisend. Sie spüren draußen den Druck, sie wollen wenigstens einen Teil dieses Druckes und ihrer Sicht nach oben weitergeben. Aber sie sehen Scholz und seine Zuträger nur aus der Ferne, erleben ihn unnahbar und abweisend. „Am Ende ist es dann eine Lappalie, die alles sprengt“, sagt der langjährige Abgeordnete.

Viele Genossen haben den Stimmungsumschwung bei den US-Demokraten sehr genau verfolgt. Nicht nur aus Sympathie. Ein schwer angeschlagener Amtsinhaber, eine gelähmte Partei, ein quälender Wahlkampf – und dann über Nacht eine Entscheidung, ein Signal, das die ganze Partei euphorisiert hat. Vielleicht sogar mehrheitlich das Land. Zunehmend ungenierter ist auch in der SPD von einem „Kamala-Harris-Effekt“ die Rede. „Vielleicht brauchen wir ein solches Momentum jetzt doch auch“, räsoniert einer, der nicht zu den Feuerköpfen in der Führungsetage gehört. Ein anderer fragt ganz offen: „Aber wer sagt’s ihm? Und wann ist der richtige Moment?“

Der Unterschied zu den USA: Es gibt keinen Vizekanzler. Niemand drängt oder steht auch nur bereit, Olaf Scholz zu ersetzen. Unter den Ministerpräsidenten, in früheren Zeiten immer natürliches Reservoir für die Führungsreserve, ist weit und breit niemand in Sicht. Boris Pistorius hat zwar hohe Beliebtheitswerte, aber keinen erkennbaren Ehrgeiz, in Kanzlerfußstapfen zu treten. Zudem stellt sich die Frage: Könnte er es denn auch? Die Zweifel sind spürbar. Und dann ist da noch der Co-Vorsitzende Lars Klingbeil. Ehrgeizig ist er; aber zu klug, um vorzupreschen. Noch hält er sich im Hintergrund. Und auch für ihn wäre die Kanzlerbürde augenblicklich zu schwer. Auch das weiß er. Aber die Erwartungen an ihn steigen. „Auf Lars kommt es an“, sagt einer aus dem Vorstand.

Das Problem: Ein Wechsel an der Spitze würde nicht viel helfen. „Ein Neuer kriegt im Bundestag doch gar keine Mehrheit mehr“, mahnt ein anderer. „Es wäre das Ende der Koalition.“ Bislang will das keiner. Jedenfalls spircht es noch niemand klar aus. So spricht vieles dafür, dass sie sich erstmal weiter durchlavieren.

Zunächst bis zur Fraktionsklausur an diesem Donnerstag und Freitag in der brandenburgischen Provinz. Es wird um eine Reihe von Sachthemen gehen. Aber über allem werden zwei Kernfragen stehen: Wie ist aus SPD-Sicht ein seriöser Haushalt bis 2025 zu stemmen? Und: Ist der Kanzler noch in der Lage, die kritischen Botschaften seiner Abgeordneten aufzunehmen? Wie verhält er sich dazu?

Die nächsten Etappen werden dann die Wahl in Brandenburg und eine Vorstandsklausur in der zweiten Oktoberwoche sein. Sollte Dietmar Woidke nach dem 22. September die Staatskanzlei räumen müssen, wird Olaf Scholz seiner Partei Fragen beantworten müssen. Nicht nur ausweichend, sondern überzeugend. Das Vertrauen innerhalb der Führung und unter den Bundestagsabgeordneten ist aufgebraucht. Dass seine Partei ihn beim Wahlparteitag im nächsten Frühjahr noch einmal nominiert, ist nach Lage der Dinge keine Selbstverständlichkeit mehr.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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