Themenschwerpunkte


Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner: „Ohne systemische Veränderungen geht es nicht“

Ist unser Steuersystem gerecht?

Nein.

Warum nicht?

Am augenscheinlichsten ist sicher die Nichtbesteuerung großer Erbschaften. Wir haben in Deutschland eine Vermögensverteilung, die man nicht gerecht nennen kann. Wenn die nicht so glückliche Hälfte der Bevölkerung nur ein Prozent des Vermögens besitzt, dient das sicher nicht dem, was ursprünglich mal gedacht war bei Privateigentum im Kapitalismus – dass nämlich jeder was hat und damit alle eine gewisse Sicherheit haben.

Was würden Sie ändern?

Idealtypisch würde ich die Erbschaftssteuer so gestalten, dass sie bei der Auszahlung von Dividenden anfällt. Solange das Geld im Unternehmen bleibt, dient es ja einem produktiven Zweck. Wenn das Geld aber an Erben ausgeschüttet wird, bekämen die zum Beispiel nur noch die Hälfte. Damit wären sie immer noch gut dran und es änderte überhaupt nichts für das Unternehmen.

„Ich würde mich auf die Erbschaftssteuer konzentrieren“

Könnten auch eine Vermögensteuer oder Einmalabgaben zum Schließen der Gerechtigkeitslücke beitragen?

Ich würde mich auf die Erbschaftssteuer konzentrieren. Die Vermögensteuer ist wegen Bewertungs- und Abgrenzungsfragen schwierig zu erheben. Die Diskussion darüber ist manchmal eine Ausflucht. Wenn man die Vermögensteuer heute in ein Wahlprogramm schreibt, muss man keine Sorge haben, sie tatsächlich umsetzen zu müssen.

Und eine einmalige Vermögensabgabe?

Darüber kann man nachdenken. Für mich hätte aber anderes Priorität: Erstens, die Löcher in der Erbschaftssteuer wirksam zu stopfen. Zweitens, darauf hinzuwirken, dass das Vermögen für die nötigen Investitionen in die Dekarbonisierung eingesetzt wird, ohne dass der Staat alles bezuschussen muss. Gerade mit Immobilien wurde die letzten Jahren gut verdient. Diese Gewinne sollten in die Modernisierung des Gebäudebestands fließen.

Also keine Hilfen für Immobilienbesitzer?

Erst einmal sollten die Vermögenden bei der Gebäudesanierung so viel wie möglich selbst bezahlen. Die Sanierung des Gebäudebestands wird teuer und ein substanzieller Teil der Investitionen wird sich nicht wirklich rentieren. Die Mieteinnahmen werden das nicht aufwiegen.

„Viele progressive Parteien haben einen problematischen Weg eingeschlagen“

Die SPD hat sich immer der Gerechtigkeit verschrieben und ist seit fast 25 Jahren – mit einer kurzen Unterbrechung – Teil der Bundesregierung. Aber gerechter ist das Land nicht geworden. Warum nicht?

Da ist die SPD ja nicht allein. Viele progressive Parteien in Europa haben einen eher problematischen Weg eingeschlagen, allen voran Labour in England. Vor allem wurde akzeptiert, dass wir das Wirtschaftssystem angeblich nicht gestalten können. Nach dem Grundsatz: Der Markt steht über der Politik. Das ist bis heute unverändert. Man versucht, an den Ecken das Schlimmste abzuschleifen. Der neoliberale Rahmen wird aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Es gibt international ja durchaus Gegenentwürfe, etwa vom Ökonomen Thomas Piketty. Wo steht Deutschland in dieser Debatte?

Sicher nicht in der vordersten Reihe. Joe Biden in den USA ist für mich die Überraschung schlechthin. Ich hätte das nicht gedacht. Die Politik, die er vertritt, gerade auch sein ökonomisches Fundament, ist eine fundamental andere als die hiesige. Biden macht all das, was die neuen progressiven Makroökonomen vorgeschlagen haben. Er betrachtet die Wirtschaft konsequent als Mittel zum Zweck.

„In Europa hält man den Markt für grundsätzlich nicht gestaltbar“

Was macht er anders – außer dem Inflation Reduction Act, der in Europa für Kritik sorgte?

In diesem Programm, über das jetzt hier so viel geschimpft wird, steht drin: Ihr bekommt nur Geld, wenn Ihr den Beschäftigten mindestens den in der jeweiligen Branche üblichen Lohn zahlt – nicht den Mindestlohn, sondern den branchenüblichen Lohn. Und er sagt: Natürlich können wir mit staatlichem Geld dafür sorgen, dass in den USA vernünftige Jobs entstehen. In Europa hält man weiterhin den Markt für grundsätzlich nicht gestaltbar. Biden hat das zurückgedreht und gesagt: Wohlstand ist, wenn wir gute Jobs haben.

Mit einer ähnlichen aktiven Rolle des Staates würden wir uns hier eher schwer tun.

Wir haben hier immer noch die Logik, dass Wirtschaft und Markt über dem Staat stehen. Auch die SPD hat das akzeptiert.

Und das ist nicht zu ändern?

Ich habe neulich mit dem EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni im Europäischen Parlament über europäische Fiskalregeln diskutiert. Und sein erstes Argument war, dass die EU-Kommission nun einen Reformvorschlag für die Fiskalregeln präsentieren muss, weil die Märkte das erwarten. Die Märkte geben also der Politik beim Thema Staatsverschuldung den Takt vor.

„Ein souveräner Staat ist nicht von Märkten abhängig“

Und was ist Ihr Argument?

Ein souveräner Staat ist in seiner Finanzierung nicht von Märkten abhängig. Es ist eher anders herum: Solange die Zentralbank Staatsanleihen kauft, beziehungsweise als Sicherheiten akzeptiert, sind die Anleihen sicher und das wissen auch alle. Marktteilnehmer wie Banken kaufen die Staatsanleihen.

Aber auch die EU zwingt uns zum Einhalten der Schuldenquote von 60 Prozent.

Die 60-Prozent-Quote ist eine völlig willkürliche Grenze, für die es keine ökonomische Begründung gibt. Nun sind wir natürlich nicht die USA, aber trotzdem zeigt der IRA wie anders es gehen kann: Das Finanzvolumen des IRA ist nicht begrenzt. Stattdessen wird finanziert, was die Dekarbonisierung voranbringt und für gute Arbeit sorgt – und das Geld folgt. Joe Biden hat die angeblichen Marktgesetze umgekehrt: Es geht also.

„Biden hat die angeblichen Marktgesetze umgekehrt: Es geht also“

Und die US-Finanzmärkte haben das akzeptiert?

Erstens wird das Programm als Wachstumstreiber gesehen, also von der Wirtschaft positiv aufgenommen. Und zweitens können die USA nicht Bankrott gehen. Ohne den US-Dollar geht in der Welt nichts, und das weiß jeder. Amerikanische Staatsanleihen sind das Fundament des globalen Finanzsystems. Es gibt zwei Pfeiler staatlicher Souveränität, die Staatsschulden und das Militär. In Europa hat man souveräne Staatsschulden einfach vom Tisch genommen, weil man ab den Achtzigerjahren gesagt hat, der Staat ist grundsätzlich ineffizient und sollte so klein wie möglich sein. Das hat man dann in allerlei Regeln reingebacken, inklusive die europäischen Verträge und die deutsche Verfassung. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Christian Lindner stellt sich gerade gegen eine Mehrheit in der EU, weil er am Stabilitäts- und Wachstumspakt festhält.

Das Problem bei den europäischen Fiskalregeln ist, dass sie schrecklich kompliziert und politisch sehr aufgeladen sind. Selbst in der Bundesregierung scheint die Substanz wenige wirklich zu interessieren.

Christian Lindner (Bild: EPA-EFE/Olivier Hoslet)

Ist die Schuldenbremse also überflüssig?

Man kann sie sinnvoller ausgestalten. Im Grundgesetz steht: Ihr dürft keine Schulden machen – es sei denn, die Wirtschaft ist unterausgelastet. Wenn die Wirtschaft voll ausgelastet ist und Inflation droht, darf man keine Schulden machen. Das ist eigentlich ein sinnvolles Prinzip. Inflation ist tatsächlich das Speedlimit einer Wirtschaft. Wenn man bei Vollauslastung mehr Geld ausgibt, steigen ja einfach nur die Preise. Das ist nicht zielführend.

Wo ist dann das Problem?

Das Problem ist, wie die Vollauslastung der Wirtschaft definiert wird. Und da haben Ökonomen der Bundesregierung beim Design der Schuldenbremse ein Ei gelegt. Sie haben die maximale Auslastung der Wirtschaft auf Basis der durchschnittlichen Auslastung der Vergangenheit definiert. Wenn früher in Deutschland Frauen überwiegend nicht gearbeitet haben, sagt man: Die Wirtschaft ist überausgelastet, sobald auch die Frauen großteils arbeiten. Wenn wir jetzt Kitaplätze schaffen und deshalb mehr Frauen arbeiten, müssen wir sparen und wieder mehr Leute arbeitslos machen. Und da wird die Definition dann wirklich absurd.

Inwiefern?

Die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen in einer alternden Gesellschaft hängt davon ab, dass möglichst viele Menschen im erwerbstätigen Alter arbeiten. So bleiben Renten finanzierbar. Die Schuldenbremse schreibt aber vor, dass nicht mehr gearbeitet werden soll als früher.

„Die Drei-Prozent-Grenze ist völlig willkürlich entstanden“

Umstritten ist auch die Drei-Prozent-Grenze bei der Neuverschuldung.

Die ist Anfang der 80-Jahre völlig willkürlich entstanden. François Mitterrand hatte in Frankreich zu viele Wahlversprechen gemacht. Er kam nicht klar, und hat dann gesagt: Es gibt zu viele Ansprüche, ich brauche irgendwie eine Grenze. Und dann haben sie sich im Ministerium eine Regel ausgedacht, die nicht zu viel zuließ, aber auch nicht zu streng erschien. Und wenn man heute über drei Prozent landet, geht angeblich die Welt unter.

Christian Lindner möchte trotzdem dabei bleiben.

Es ist faszinierend. Diese Werte bedeuten gar nichts, aber sie anzugehen, wird im politischen Kontext wie eine Revolution gesehen. Auch SPD und die Grünen haben das nie ernsthaft infrage gestellt.

In den USA werden jetzt Wirtschaft und Klimaschutz zusammen gedacht. Das Stichwort lautet „Green Jobs“. Ein Vorbild für Deutschland?

Durchaus. Auch wir beim Dezernat Zukunft glauben, dass wir Klima und Jobs zusammen denken müssen. Die Dekarbonisierung ist nur bezahlbar, wenn sie mit guten Jobs einhergeht. Hört man Olaf Scholz zu, scheint auch die Regierung in die Richtung zu denken.

Da muss man aber sehr genau hinhören.

Er spricht schon von Klima und Jobs. Das Problem ist das unveränderte ökonomische Fundament. Am Ende gehen arbiträre Fiskalregeln über gute Jobs.

„Der Markt regelt da überhaupt nichts“

Kürzlich haben Sie mit Kollegen zusammen geschrieben: „Um den Klimawandel aufzuhalten, sind drastische Veränderungen im menschlichen Verhalten und in unserer Wirtschaft erforderlich.“ Welche?

Ohne systemische Veränderungen geht es nicht. Diese Idee, dass wir Klimaschutz allein dadurch erreichen können, dass wir uns alle gut verhalten und mit der Straßenbahn fahren, haut nicht hin. Das ist eine gefährliche Abwälzung von Verantwortlichkeit vom Staat auf den Einzelnen. Mir geht es vor allem um unser Energiesystem. Da hängt alles Weitere dran und das kann nur der Staat regeln – der Markt regelt da überhaupt nichts.

Viele Beiräte und Kommissionen haben inzwischen Konzepte für eine andere Finanzpolitik vorgelegt. Warum werden die so selten umgesetzt?

Die Übersetzung eines Konzepts, das abstrakt gut klingt, in praktische Politik ist eine Herausforderung. Es gibt zum Beispiel schon lange den Vorschlag, wieder so eine goldene Regel einzuführen, also Investitionen auszunehmen aus der Schuldenbremse. Das klingt super, funktioniert aber hinten und vorne nicht.

„Klingt super, funktioniert aber nicht“

Warum?

Bei Investitionen sind die großen Positionen im Bundeshaushalt derzeit Autobahnen, Entwicklungshilfe, Gebäude. Das hat wenig mit unserer aller Vorstellung von Zukunftsinvestitionen zu tun. Unter Zukunftsinvestition stellt man sich ja eher Ausgaben für die Bildung vor. Die werden aber im Bundeshaushalt nicht als Investition gezählt. Zudem gibt es bei einer Investitionsregel, die man auf den Bund beschränkt, ein Problem: Man soll sich eigentlich nur für Investitionen verschulden dürfen, die zusätzlichen Wohlstand schaffen. Der Bund dürfte also nur Schulden machen, wenn er ein zweites Schulgebäude baut, nicht wenn er ein altes ersetzt.

Warum tut man das dann nicht?

Der Bund selbst baut fast nichts, sondern gibt das Geld dafür an die Kommunen. Das heißt, auch wenn er diese Regel einführen würde, wächst sein Vermögen nicht, aber er hat Abschreibungen. Dann hätte man, das hatten wir vor den Koalitionsverhandlungen 2021 mal ausgerechnet, sogar noch eine Verringerung des finanziellen Spielraums insgesamt. Ich glaube, das ist ziemlich emblematisch für vieles andere.

„Das ist nichts, womit man im Wahlkampf antritt“

Wofür genau?

Für Konzepte, die gut klingen und hinter denen auch eine vernünftige Idee steckt – in der Umsetzung aber schwierig sind. Und gerade bei so abstrakten Themen wie den ökonomischen muss man, damit man eine gewisse Chance in der Politik hat, viel Öffentlichkeitsarbeit leisten. Die meisten Politiker in Deutschland haben nicht wirklich eine Meinung zu Fiskalpolitik; das ist nichts, womit man im Wahlkampf antritt.

Viele Meinungen dazu findet man auf Twitter, bekannte Ökonominnen und Ökonomen liefern sich da regelmäßig Wortgefechte. Bringt das was?

Ich fand es am Anfang sehr hilfreich. Wenn man sich vernünftig aufführt und nicht ganz blöde Fragen stellt, kommt man da an interessante Leute ran, von denen man ohne Twitter nicht wüsste, dass sie existieren. Man kann sich dort einen gewissen Ruf erarbeiten. Die Diskussion hatte aber auch immer schon ihre problematischen Seiten. Es ging teilweise nicht um Erkenntnisgewinn, sondern um das Rechthaben. Ich habe das Gefühl, dass das in der Corona-Zeit noch mal schlimmer geworden ist.

Wenn es um zukunftsfähige Finanzen geht, spielen Kommunen und ihre Schulden eine große Rolle. Was muss da passieren?

Das Altschuldenproblem betrifft ein paar Kommunen sehr stark. Ich bin mir aber nicht sicher, ob eine Entschuldung so viele Probleme lösen würde. Das grundsätzliche Problem ist die schwankende Finanzierungsgrundlage der Kommunen. Sie finanzieren ihre Investitionen primär über lokale Steuereinnahmen, wie die Gewerbesteuer. Die schwankt aber sehr stark. Wie soll man damit langfristige Investitionspläne aufstellen, wie sie für die Dekarbonisierung notwendig sind?

„Lieber an gefährdeten Standorten etwas Neues ansiedeln“

In Deutschland gibt es gerade eine Debatte über einen subventionierten Industriestrompreis. Auch in der SPD gibt es viele Sympathien dafür. Für Sie ein richtiger Ansatz?

Ich kenne bisher keine Analyse dazu, auf deren Basis man eine fundierte Antwort geben könnte. Das wäre auf jeden Fall ein sehr großes Instrument. Wenn es dazu dient, Unternehmen den Übergang in die Produktion mit grünem Strom zu erleichtern, ist es sinnvoll. Wenn wir damit aber dauerhaft unprofitable Unternehmen subventionieren, wäre das nicht gut angelegtes Geld. Da wäre es sehr viel sinnvoller, an gefährdeten Standorten etwas Neues anzusiedeln.

Neue Industrien mit hoher Wertschöpfung entstehen nicht einfach so. Da könnte es sinnvoller sein, alten zu helfen, die Durststrecke zu überbrücken, oder?

Stimmt. Aber wir müssen so viele neue Industrien und Wertschöpfungsketten in Deutschland aufbauen. Wir haben eine Knappheit an Arbeitnehmern und eine Knappheit an Strom. Und dann zu sagen, wir halten dauerhaft am Leben, was nicht überlebensfähig ist, halte ich für fragwürdig.

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