Einen Tag nach dem Eklat vom Mittwoch gibt es keine Hinweise darauf, dass Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz bis Freitag früh noch den Versuch unternehmen könnte, eine Wiederholung der Ereignisse zu verhindern. Bis zum Abend gab es keine Pläne, die zweite und dritte Lesung des Zustrombegrenzungsgesetzes abzublasen, obwohl das gleiche Szenario droht: eine knappe Mehrheit fürs Gesetz – und danach eine feixende AfD, die die sogenannte Brandmauer der Union zur AfD für gefallen erklärt.
Um dem aus dem Weg zu gehen, gäbe es im Grundsatz drei Möglichkeiten. Im ersten Fall zöge die Union ihr Gesetz zurück; das aber würde nicht verhindern, dass die AfD eine Abstimmung erzwingt. Im zweiten Fall könnte eine Mehrheit aus Union und ehemaligen Ampelparteien den Entwurf noch einmal in den Innenausschuss überweisen. Das aber ist unwahrscheinlicher denn je, obwohl SPD, Grüne und auch Merz öffentlich erklärt haben, dass sie eine solche Wiederholung eigentlich verhindern wollen. Den ersten Schritt dazu müsste Merz machen; aber dieser Schritt kommt nicht. Merz hat sich entschieden, keinen Rückzug anzutreten.
Daran ändert auch die breiter werdende Kritik nichts. Weder die Ablehnung seines Kurses durch Angela Merkel noch der offene Brief von Künstlerinnen und Künstlern oder der am Donnerstag bekannt gewordene Parteiaustritt von Michel Friedman bringen Merz und sein Umfeld dazu, die Abstimmung zu überdenken. Merkel hatte es als falsch bezeichnet, „sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen“. Ihre Kritik bewirkt eher das Gegenteil: Ihre Distanzierung hat zwar einige liberale Abgeordnete in ihrer Sorge bestätigt. Aber die überwiegende Mehrheit in der Fraktion ist über die gefühlte Illoyalität so verärgert, dass sie mit einem Jetzt-erst-recht in den Freitag geht. Verbunden mit dem Vorwurf, Merkel habe der Union das ganze Problem überhaupt erst eingebrockt.
Merz setzt auf die dritte Variante: dass er doch noch die Zustimmung von SPD und/oder Grünen bekommt. Auf einer Wahlveranstaltung am Abend in Dresden wiederholte er den Versuch, vor allem die Sozialdemokraten doch noch zum Umdenken zu bewegen. „Ich suche keine Mehrheit außerhalb des breiten Spektrums der politischen Mitte“. Umso mehr hoffe er, dass die SPD doch noch zur Vernunft komme. Es gehe im Kern um drei Dinge: Um den Begriff Begrenzung, der wieder ins Gesetz solle; um die Idee, der Bundespolizei direkte Befugnisse für Haftbefehle zu übertragen. Und um ein Ende des Familiennachzugs bei subsidiär Geschützten. Forderungen, die mindestens zum Teil seit Jahren immer wieder von allen 16 Ministerpräsidenten gefordert würden. Er gebe bis zum Schluss die Hoffnung nicht auf, dass die Sozialdemokraten „für einen Moment die Luft anhalten und doch noch zustimmen.“ Weimar sei nicht durch die Machtergreifung gescheitert, sondern „an der mangelnden Fähigkeit, in der politischen Mitte, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen“.
Merkels Kritik kontert Merz mit Kritik an Merkel. Dass die AfD seit 2017 im Bundestag sitze, habe viel mit der Politik in den Jahren davor zu tun. Deshalb wolle er diese Politik seiner Partei so korrigieren, „dass die sogenannte Alternative für Deutschland in unserem Land nicht mehr gebraucht wird“. Das verlange aber auch, dass SPD und Grüne die AfD nicht als Werkzeug benützten, um den Wunsch einer Mehrheit nach einem härteren Kampf gegen Verbrechen wie die in Magdeburg und Aschaffenburg zu verhindern. Seine Botschaft: Solche Ziele nicht als AfD-like zu beschreiben, sondern als notwendig zu betrachten und mitzutragen.
Die Gesellschaft ist über Merz’ Abstimmungsstrategie gespalten. Laut dem aktuellen Politbarometer halten 48 Prozent der Befragten das Verhalten der Unionsfraktion am Mittwoch für falsch. Aber 47 Prozent der Befragten unterstützten ihn. Ebenfalls komplett gespalten sind die Menschen bei der Frage, ob die von Merz geforderten Verschärfungen viel bringen. 48 Prozent sagen ja, 48 Prozent sagen nein. Die Frage, ob es richtig ist, dass die CDU eine Zusammenarbeit mit der AfD prinzipiell ablehnt, bejahen 68 Prozent der Befragten, schaut man nur auf die Unionsanhänger, dann sind es 72 Prozent. Bei der Sonntagsfrage zeigt sich, dass die Zahlen weitgehend eingefroren sind, aber die Union einen Prozentpunkt verliert. Das gleiche Bild kommt am Abend auch von Infratest Dimap.
I m ganzen Land demonstrierten am Abend Menschen gegen den Rechtsextremismus und die Abstimmung vom Mittwoch. In Berlin belagerten rund 6.000 Menschen die CDU-Parteizentrale, 7.000 die CSU-Zentrale in München. In Freiburg versammelten sich nach Angaben der Polizei 15.000 Demonstranten auf dem Platz der Alten Synagoge, in Mainz demonstrierten 4.000 Menschen, nach Angaben der Polizei ebenfalls deutlich mehr als erwartet.