Als Schulkinder bekamen wir an heißen Tagen wie jetzt im Juli hitzefrei: Brauchen wir heute, wo die Temperaturen öfter noch höher steigen, alle mal hitzefrei, vor allem aber Erntehelferinnen oder Bauarbeiter?
Wir brauchen eine neue Form von hitzefrei. Wir müssen den Sommer verstehen wie Segler das Wetter: Wann kann ich raussegeln, wann muss ich im Hafen bleiben, wer könnte an Bord gefährdet sein? Wenn man sich mit Hitze beschäftigt, fällt auf, wie ignorant wir sind. Hitzefrei geben Schulleiter erstaunlicherweise nicht bei Sportfesten vor der Sommerpause. Für Menschen, die draußen schuften, kann die Hitze zur tödlichen Gefahr werden. Da braucht es ab einer gewissen Temperatur hitzefrei – beziehungsweise eine Umstellung der Arbeitszeiten und wirksamen Hitzeschutz.
Sie haben 2017 die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit, KLUG, mitgegründet. Was war der Anstoß?
Wir waren eine 15-köpfige Gruppe von Studierenden, Azubis, Professoren, Pensionären, die die einschlägigen Studien von der WHO und im Lancet gelesen hatten. Wir wussten, dass der Klimawandel die größte Bedrohung für die Gesundheit unserer Zeit ist. Doch im deutschen Gesundheitssektor spielte er praktisch keine Rolle. Die Leute, die sich engagiert haben, wurden eher belächelt. Irgendwann wurde uns klar, wir müssen was tun. KLUG hatte von Anfang an drei Ziele: aufzuklären über die Bedrohung und über Maßnahmen. Dafür zu sorgen, dass man diese Inhalte im Gesundheitswesen lernt und umsetzt. Drittens: eine starke Rolle spielen in der gesellschaftlichen Transformation.
Mitte Juni hat Karl Lauterbach erstmals einen Nationalen Hitzeschutzplan angekündigt, zusammen mit Ihnen. Welche Rolle hatte KLUG im Vorfeld gespielt? Bisher wurde der Hitzeschutz ja den Ländern und Kommunen überlassen ...
… den Ländern und Kommunen und vor allen Dingen den Umweltministerien. Hitzeschutz galt als Teil der Klimaanpassung und wurde nicht aus der Perspektive der Gesundheit gesehen. Das war ein Teil des Problems. 2019 gelang es uns gemeinsam mit der Bundesärztekammer, dem Helmholtz Zentrum München, dem Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, der Charite und dem Lancet einen Policy-Brief für Deutschland zu machen. Erste Empfehlung: die Einführung von Hitzeaktionsplänen auf allen Ebenen. 2021 wurde dann geschaut: Was wurde davon umgesetzt? Ergebnis: Wenn Kommunen überhaupt Aktionspläne hatten, dann normalerweise ohne den Gesundheitssektor. Ohne die Krankenhauschefin oder den Pflegedienstleiter. Kurz: Wir sind in Deutschland auf die Gesundheitsgefahr durch Hitze, auf den Katastrophenfall durch Hitze nicht vorbereitet.
Wie haben Sie den Bund ins Boot geholt?
Wir haben letztes Jahr im Land Berlin ein Aktionsbündnis gegründet mit der Landesärztekammer und dem Senat, hatten also kurzfristig die Akteure zusammenbekommen und gezeigt: Es geht. Daraus ist dann ein Positionspapier der Bundesärztekammer entstanden mit der Botschaft: Jawohl, der Gesundheitssektor hat bisher geschlafen – und muss endlich handeln. Das hat den Gesundheitsminister überzeugt.
Es gibt Kommunen und Länder, die schon eigene Hitzeschutzpläne haben. Wie würden die verzahnt mit einem nationalen Plan?
Hitzeschutz muss wie Brandschutz als gesetzliche Pflichtaufgabe verankert werden. Mit Plänen auf Bundes-, Länder und kommunaler Ebene. Alle Einrichtungen und größere Institutionen müssen bereit sein. Bei einem so großen Thema kann man nicht auf bloße Freiwilligkeit setzen. Wir reden hier von bis zu 10.000 Toten im Jahr.
Frankreich hatte früh seinen Weckruf: Im Sommer 2003 starben 13.000 Menschen an Hitze; die Leichen mussten in Kältezelten verwahrt werden. Frankreich hat danach Hitzeschutzpläne entwickelt, an denen sich Deutschland orientieren will. Inwiefern?
Frankreich hat die gesundheitliche Dimension des Klimawandels in den Mittelpunkt gestellt. Seit 2004 gibt es dort einen nationalen Plan und der wird jedes Jahr angepasst. Was können wir tun, um unsere Bevölkerung vor der Gesundheitsgefährdung zu bewahren? Wie können wir besser aufklären? Wie können wir Alarmstufen definieren und darüber informieren? Welche sind die verletzlichsten Bevölkerungsgruppen? In den Kommunen ist geregelt, wer welche Aufgaben übernimmt. Diesen praktischen Teil haben sie sehr gut gemacht. Woran es Frankreich noch mangelt, ist ein übergeordneter Plan. Wie werden wir hitzeresistenter in den Städten, wie bauen wir sie schattiger, begrünen sie mehr? Das ist wichtig, auch bei uns.
Letztes Jahr gab es in Frankreich trotz der Schutzpläne wieder 7000 Hitzetote. Wie erklären Sie das?
In Frankreich sieht man einen Rückgang der Zahlen bei den betroffenen Älteren, auf die sich die Vorsorgemaßnahmen fokussiert haben. Aber bei Jüngeren sind die Zahlen im Vergleich hoch. Es zeigt, dass die Gefährdung zunimmt, dass sich die Situation von 2003 bis heute massiv verändert hat. Wir müssen anerkennen, dass wir mit unseren bisherigen Ansätzen, die Klimakrise einzuhegen, gescheitert sind. Große Teile der Politik vermitteln nach wie vor, dass wir weiterleben können wie bisher, weiter fliegen können wie bisher, weiter große Autos fahren. Diese Lebenslüge werden wir erst dann beenden, wenn wir begreifen, was auf dem Spiel steht. In Spanien und Italien gab es jetzt schon Temperaturen weit über 40 Grad!
Frage an den Mediziner: Wann können jüngere Menschen an Hitze sterben?
Zum Beispiel, wenn sie bei sehr hohen Temperaturen draußen joggen. Sie können dann einen Hitzschlag erleiden. Wenn sie dann eingeliefert werden, geht es darum, sie schnell genug zu kühlen. Eine Körpertemperatur, die von außen auf mehr als 41 Grad erhöht wurde, ist lebensgefährlich, das geht manchmal ganz schnell. Das ist der Grund, warum Menschen im nordamerikanischen Death Valley aus dem Auto steigen, um nur etwas spazieren zu gehen – und es dann nicht mehr zurück schaffen.
Fangen wir im Kleinen an. Die Pflegeheime bräuchten Klimaanlagen, aber die sind Stromfresser und daher Klimakiller. Was tun?
Da gibt es keine einfache Lösung. Auf keinen Fall können wir aus Nachhaltigkeitsgründen Menschen sterben lassen, aber es gibt technische Lösungen. Fakt ist aber: Es werden immer noch Krankenhäuser und Pflegeheime gebaut, bei denen Hitze nicht mitgedacht wird, weil die Ausschreibungen das nicht verlangen. Dann ist da die Frage nach nachhaltiger Technik. Meine Wärmepumpe beheizt im Winter den Fußboden und schickt dort im Sommer kühlendes Grundwasser hindurch. Das bringt 2 bis 3 Grad, aber die reichen oft schon. Wir brauchen nicht überall 18 Grad durch Air Condition. Vielleicht reichen auch Aufenthaltsräume mit Klimaanlage, wo sich Patienten an sehr heißen Tagen abkühlen können. Neulich hörte ich von 42 Grad in einem Kreissaal – in Deutschland! Das ist doch unverantwortlich.
Sind Menschen mit geringeren Einkommen mehr betroffen? Obdachlose sind ja besonders gefährdet. Öffentliche Wasserspender können ihr Leben retten.
Das trifft leider zu. Weltweit und auch bei uns sind die Ärmsten von den Klimafolgen am stärksten betroffen. In vielen Städten zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der Sozialstruktur im Viertel, der Umweltbelastung und der Bausubstanz. Luftschadstoffe wirken auf Lungen bei Hitze wie Brandbeschleuniger.
Wie geht es weiter mit Lauterbachs Hitzeaktionsplan?
Es wird mit Hochdruck daran gearbeitet. Karl Lauterbach macht das mit großer Disziplin. Nach der Ankündigung hatten wir schon 13 Tage später ein erstes Expertentreffen, darunter Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation, und Professor Andreas Matzarakis, der die Medizin-Meteorologische Abteilung des Deutschen Wetterdienstes leitet. Es war wahrscheinlich das höchstrangig besetzte Treffen, das wir je in Deutschland zum Thema hatten. Bis zu unserem nächsten Treffen Ende Juli will Minister Lauterbach bilaterale Konsultationen führen, mit den Hausärzten, den Verbänden, dem Wetterdienst.
Und wann mündet das alles in Gesetze?
Gerade hat die Regierung ihren Entwurf für ein Klimaanpassungsgesetz vorgelegt. Wir werden darauf achten, dass das Thema Gesundheit sehr prominent hineinkommt; eine Stellungnahme liegt schon vor. Bis Ende nächstes Jahr soll das Gesetz fertig sein. Es geht um eine Gemeinschaftsaufgabe: Wir müssen Hitzeschutz zu einer gesellschaftlichen Norm machen. Jeder von uns kann lernen, sich zu schützen und bei seiner älteren Tante oder einem gebrechlichen Nachbarn dafür sorgen, dass sie genug trinken und nicht in der Hitze einkaufen gehen. Diejenigen, die bei dieser Aufgabe versagen, müssen wir durchaus zur Rechenschaft ziehen. Es kann nicht sein, dass bei Hitze Dachdecker vom Dach fallen. Es ist nicht mehr akzeptabel, dass Bundesjugendspiele bei über 30 Grad im Schatten stattfinden.
Sie haben gesagt, wir nehmen den Klimawandel noch nicht ernst genug. Erwarten Sie, dass wir angesichts der gesundheitlichen Gefahr ins Handeln kommen?
Ja. Das Gesundheitswesen kann die Dinge ins Rollen bringen. Wir wissen, dass Kranke ihre Diagnose kennen müssen, um handlungsfähig zu werden. Da sehe ich das Versagen der Politik: Sie spricht in dieser existenziellen Situation nicht klar darüber, wo wir stehen. Dabei werden Menschen kreativ, wenn sie den Ernst ihrer Lage begreifen. Wir müssen jetzt als Gesellschaft verstehen, dass wir einen medizinischen Notfall haben, in einer existentiellen Krise stecken. Wir brauchen die Unerschrockenheit, die man dann erlebt, wenn Sanitäter und Ärztinnen bei einer Katastrophe uneingeschränkt ihr Bestes geben.