Herr Sarrazin, wie gefährlich ist die Lage?
Die Lage ist im Moment ruhig, aber noch immer extrem volatil. Die zentrale Frage ist und bleibt ungelöst, wie die Repräsentation und Verwaltung im mehrheitlich von Kosovo-Serben bewohnten Teil des Nord-Kosovo und die volle Integration in die staatlichen kosovarischen Strukturen erreicht werden kann. Diese Frage führt immer wieder zu Eskalationen, und die jüngste war nun besonders heftig.
Verändern die brutalen Attacken auf die KFOR-Soldaten den Einsatz – und vielleicht auch die Chancen auf Annäherung?
Die Angriffe waren grauenhaft, die betroffenen KFOR-Soldaten aus Italien, Ungarn und Moldau sind hart getroffen worden. Wir können uns bei den Soldaten nur bedanken, der Einsatz war extrem wichtig. KFOR hat sich zwischen die Seiten gestellt und damit noch sehr viel Schlimmeres verhindert.
Bleibt was hängen?
Die Konfliktparteien haben schon erheblich Vertrauen verspielt. Trotzdem habe ich keinen Zweifel daran, dass KFOR ihre Rolle weiter klug und entschieden ausfüllen wird. Es gibt ein klares Mandat, und das ist unverändert.
Vor der Eskalation haben EU und USA der kosovarischen Führung empfohlen, die faktisch von einer kleinen Minderheit gewählten Bürgermeister nicht sofort zu inthronisieren. Warum wurden die Warnungen ignoriert?
Weil die kosovarische Regierung von Albin Kurti nach den wiederholten Konflikten auf ihrem Recht beharrt, ihre gewählten Bürgermeister jetzt auch durchzusetzen. Wir hatten zur Besonnenheit aufgerufen. Das Problem ist: Solange die ethnisch serbische Mehrheit in diesen vier Gemeinden im Norden nicht an den Wahlen teilnimmt, wird sich das Problem nicht lösen lassen. Formal kann die kosovarische Regierung sagen, dass sie auf den Ergebnissen der Wahlen besteht; faktisch entgegnen die Serben, dass eine Wahl, an der nur drei Prozent teilgenommen haben, keine akzeptierte Vertretung sein kann.
Klingt nach Stillstand.
So ist es. Trotzdem halte ich den Schritt in der Güterabwägung, was das auf serbischer Seite auslöst, für einen Fehler. Premierminister Kurti ist zu einer anderen Abwägung gekommen.
Wie geht es weiter?
Zunächst muss ich sagen, was ich Premierminister Kurti auch schon direkt gesagt habe: Jeder ist für seine Handlungen selber verantwortlich. Natürlich hat auch der serbische Präsident Aleksander Vucic in den letzten Wochen mit seinen Statements und seinem Abstimmungsverhalten im Europarat zusätzliches Misstrauen gesät. Trotzdem ist die Entscheidung der Regierung Kosovos, mit dem Risiko dieser Eskalation die Bürgermeister mit robuster Polizeieskorte in die Rathäuser zu bringen, ein Fehler, für den sie die politische Verantwortung trägt.
Was muss jetzt geschehen?
Klar ist jetzt: Der EU-geführte Dialog muss mit voller Kraft weitergehen. Wir unterstützen den EU-Sonderbeauftragten Miroslav Lajcak dabei mit voller Kraft. Um jetzt vom ständigen Krisenmodus wegzukommen, muss die Umsetzung des im Februar und März vereinbarten Grundlagenabkommens zwischen beiden Ländern endlich vorankommen. Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron haben in gemeinsamen Gesprächen mit den Staatschefs aus Kosovo und Serbien am Mittwoch in Moldau diese Dialog-Bemühungen mit Nachdruck unterstützt. Dabei steht im Vordergrund, nun an den Verhandlungstisch zurückzukommen, die Lage im Norden zu beruhigen, Neuwahlen in den Gemeinden und die Umsetzung des Grundlagenabkommens voranzutreiben.
Welche Verantwortung trägt die serbische Seite?
Das kann man nicht pauschal sagen. Da gibt es diejenigen, die sich entschieden haben, die sich gewaltbereit unter die Demonstranten vor den Rathäusern gemischt haben. Sie tragen natürlich die Verantwortung für die Angriffe auf KFOR und die Polizei, insbesondere jene, die brutale Straftaten begangen haben. Wir sollten uns keine Illusionen machen, dass das alleine besorgte Bürger von Nord-Mitrovica waren. Das waren sie nicht.
Wo kam sie sonst her?
Es waren Hooligans dabei, die auch aus Serbien in den Norden Kosovos kamen, die genau wissen, wie man brutal gegen die andere Seite vorgeht. Aber man muss auch dran erinnern, dass die friedlichen Proteste, die wir auch seit einigen Tagen sehen, von der Kosovo-serbischen Bevölkerung im Norden breit getragen werden. Gerade auch in der Zivilgesellschaft in Nord-Mitrovica, die keineswegs zu den quasi professionellen Hooligans gehören.
Was bedeutet das?
Die kosovarische Politik sollte ernst nehmen, dass ihre Handlungen im Norden breiter abgelehnt werden als sie denkt – und dass es da eine kosovoserbische Zivilgesellschaft gibt, die nicht auf Gewalt setzt.
Wie wollen Sie eine Brücke bauen zwischen der kosovarischen Führung und dem zivilen, friedlichen Teil der serbischen Bevölkerung?
Ich befürchte, dass jetzt erstmal sehr viel Porzellan zerschlagen worden ist. Wir sind seit vielen Jahren sehr engagiert in der Frage eines internen Dialogs; wir wollen die kosovarische Regierung für eine Zusammenarbeit mit den serbischen Bevölkerungsteilen gewinnen und unterstützen. Wir haben ja rege Kontakte in die Zivilgesellschaft. Aber wir alleine können das nicht schaffen, da muss sich die Regierung Kosovos bewegen. Zumal Pristina weiß: Deutschland hat Kosovo anerkannt und lässt keine Zweifel an der Souveränität der kosovarischen staatlichen Institutionen im gesamten Staatsgebiet. Gleichzeitig würden die richtigen Signale aus Belgrad für ein besseres Zusammenleben der Ethnien auch nicht schaden.
Wäre Serbien für einen echten Frieden zu gewinnen?
Ich denke, jedem Menschen in Serbien ist klar, dass die Europäische Union die richtige Zukunft für Serbien darstellt. Das Argument der Gegner, sich anderen Seiten wie Russland zuzuwenden oder als angeblich starkes Serbien außerhalb der EU zu bleiben, ist immer nur dann attraktiv, wenn der Glaube an die tatsächliche Erreichbarkeit des Ziels zu klein ist.
Was heißt das für Berlin und Brüssel?
Wir müssen einerseits klar und hart auf die Ereignisse reagieren. Mit einer unmissverständlichen Ansprache und Erwartung an beide Seiten: So wie es ist, kann es nicht bleiben; beide Seiten müssen sich bewegen. Mein Eindruck ist, dass der Bundeskanzler und der französische Präsident das in Chişinău gemacht haben. Zum anderen müssen wir zeigen, dass eine friedliche Lösung nur gelingen kann, wenn die Frage der Zugehörigkeit zu Volksgruppen oder der Staatsangehörigkeiten oder auch wer auf welcher Seite einer Grenze lebt, perspektivisch keine Rolle mehr spielt, weil alle diesseits und jenseits dieser Grenze der EU angehören. Das ist sehr vergleichbar damit, wie Deutschland das nach 1945 durch die europäische Integration gelungen ist.
Es gibt Berichte, dass die Kommunalwahlen im Norden des Kosovo wiederholt werden könnten. Ist das eine Möglichkeit, um auch den zivilgesellschaftlichen Teil der serbischen Bevölkerung an die Urne zu holen?
Das wäre ein sehr positiver Schritt. Wir haben schon nach der ersten Verschiebung der Kommunalwahlen alles versucht, um die Kosovo-Serben zu überzeugen, an den Wahlen teilzunehmen. Ich fürchte nur: Das wird nicht einfach werden.
Gibt es eine Entscheidung des Westens, über die Sie heute sagen: Das hätten wir anders machen sollen?
Die EU hat mit Sicherheit Fehler dabei gemacht, die EU-Beitrittsperspektive nicht stark genug ins Schaufenster zu stellen. Die Menschen im westlichen Balkan wünschen sich, Teil der EU zu werden, und fühlen sich in einer Warteschleife ins Abseits gestellt. Mal war die EU selbst zu müde; mal hat sie Versprechen in Fragen der Erweiterung nicht gehalten. Das ist aber keine Entschuldigung dafür, dass die Politiker in der Region, und eben auch in Kosovo und Serbien, die notwendigen Reformen haben schleifen lassen. Und was passiert: Immer mehr Menschen wandern ab. Das ist nicht für uns ein Problem, sondern für die Länder selbst.
Gab es umgekehrt einen Moment, an dem man entschiedener hätte sein müssen?
Ja. Es war ein großer Fehler, dass wir Erfolge zwischendurch, also kleine und größere Annäherungen, immer wieder mündlich verkündet, aber nie schriftlich fixiert haben.Man hätte die beiden Seiten dazu bringen müssen, das in ihren Parlamenten ratifizieren zu lassen. Dann hätten sie sich vielleicht in den Parlamenten jeweils gestritten. Aber am Ende hätten Zustimmung und Vereinbarung eine ganz andere Verbindlichkeit erlangt. Die Glaubwürdigkeit wäre viel größer gewesen.
Hätte das gelingen können?
Ich denke ja. Natürlich hätte es auch scheitern können. Aber ich glaube, Präsident Vucic hätte es in Belgrad durchgebracht und Premierminister Kurti in Pristina. Dann nämlich, wenn das Land vor einer echten Entscheidung steht und nichts mehr im Nebel bleibt. Außerdem müssten Kurti und Vucic bei allen Konsequenzen Farbe bekennen.
Und jetzt?
Jetzt erleben wir, wie sich beide Seiten sehr ähnlich verhalten, sich gegenseitig als Faschisten, Terroristen und Ähnliches beschimpfen. Und erklären, dass die internationale Gemeinschaft ganz böse zu ihnen sei, sie im Stich lasse. Das ist gerade nicht die Tonlage, mit der man einen Frieden möglich macht.