Zwei Jahre können in der Politik eine sehr lange Zeit sein. Vor gut zwei Jahren war CSU-Chef Markus Söder voll des Lobes über die Grünen. Wer damals mit Söder sprach, spürte bereits, was wenig später offen auf dem Tisch lag: Söder wollte Kanzlerkandidat werden und schwärmte in Hintergrundrunden regelrecht von den Möglichkeiten einer schwarz-grünen Regierung mit Annalena Baerbock als Außenministerin.
Alles vorbei. Heute sind die Grünen für Söder ein „Sicherheitsrisiko“ und Baerbock steht für ihn an der Spitze derjenigen, die sich „geradezu in einen Kriegsrausch“ hineinsteigern. So hat er es vor gut drei Wochen beim Politischen Aschermittwoch in Passau gesagt. Söders Ausfälle gegen die Grünen erinnern in ihrer Derbheit an die Zeiten, als die Grünen noch der politische Erzfeind der CSU waren. Als etwa der damalige Generalsekretär Alexander Dobrind t die Integrationspolitik der Grünen mit den Worten attackierte, die Wähler dürften sich nicht wundern, wenn sie bald ein Minarett im Garten stehen hätten.
Nun hat Söder keinesfalls einen politischen Rückfall erlitten, bei ihm ist alles Kalkül. Und weil es zu Söders Fähigkeiten gehört, schneller als andere zu erkennen, wenn sich politische Strömungen verändern, hat er praktisch noch in der Nacht der Bundestagswahl einen Strategiewechsel vorgenommen. Seither heißt die Devise: Bayern zuerst. Es war vor allem die CSU, die ein mögliches Jamaika-Bündnis torpediert hat. Die Indiskretionen aus den damaligen Sondierungsgesprächen mit Grünen und FDP sollen in erster Linie aus ihren Reihen gekommen sein. An einer instabilen Jamaika-Koalition mit einem schwachen Kanzler Armin Laschet, für dessen Entscheidungen er immer in Mithaftung genommen worden wäre, hatte Söder kein Interesse.
Gut möglich, dass Friedrich Merz in diesem historischen Augenblick unmittelbar nach der Bundestagswahl genauso gedacht hat. Es könnte aber historisch der einzige kleine Moment sein, an dem Söder und er tatsächlich mal einer Meinung waren. Mittlerweile ist Merz Partei- und Fraktionsvorsitzender der CDU. Und wenn er sich zuletzt eine Aufgabe verordnet hat, dann ist es das Bemühen, einigermaßen modern in die Zukunft zu blicken, gerade beim Mega-Thema Klima und Umwelt. Seit Tagen tourt Merz auf Regionalkonferenzen durchs Land, und zwei Sätze begleiten seine Auftritte wie keiner sonst: „Ich will an keiner Stelle mehr hören, wo wir dagegen sind. Ich will nur noch hören, wo wir dafür sind.“
Merz hat offenbar verstanden, wie sehr seine Partei gerade bei Themen wie Klima, Transformation und Umweltschutz hinterherhinkt. In den inhaltlichen Aussagen und noch mehr in der öffentlichen Wahrnehmung. Um das zu ändern, plädiert er dafür, nicht mehr zurückzublicken und stattdessen „dieses große Problem der Menschheit zu lösen“. Mit eigenen Ideen natürlich, vor allem mit „marktwirtschaftlichen Mitteln“. Aber es geht ihm nicht mehr um den Streit beim Ziel, es geht um den Weg. Und der soll nicht mehr nach Konflikt aussehen, sondern nach Lösung. Eine Tonlage, die an Söder erinnert: den Söder vor zwei Jahren.
Doch der hat einen Schwenk vollzogen. Und auf den ersten Blick ist die Strategie sogar plausibel. Für die CSU waren schon immer die Landtagswahlen in Bayern die wichtigsten Wahlen. Ihre Sonderstellung als Regionalpartei, die auch bundespolitisch ein Faktor ist, verdankt sie ihrer Dominanz in Bayern. Auch für Söder persönlich hängt alles an dieser Landtagswahl. Seit er Ministerpräsident und CSU-Chef ist, hat er noch bei keiner Wahl voll überzeugt und kam erst recht nicht an frühere Triumphe der Partei heran. Egal ob Bundestags-, Landtags- oder Kommunalwahlen – immer zeigte der Balken für die CSU nach unten. So weit also, so verständlich ist es, dass Söder nicht an die größeren, sondern an die bayrischen Linien zuallererst denkt.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die CSU gegen den sonstigen Trend bei der letzten Europawahl 2019 ein leichtes Plus verzeichnete. Das lag nämlich auch daran, dass damals Manfred Weber, Söders größter innerparteilicher Rivale, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei war. In ihr sind die christlich-konservativen Parteien vereint. Söder selbst hat das nur begrenzt geholfen, er muss bei der Landtagswahl im Herbst endlich liefern. Ein schwaches Wahlergebnis könnte der Beginn seines politischen Niedergangs sein, mit Wahlverlierern ist die CSU immer unbarmherzig umgegangen.
Und so setzt Söder auf eine alte Strategie, mit der die CSU in der Vergangenheit Erfolg hatte: Der Bund ist der Buhmann, der Bayern in allen Bereichen benachteiligt. Erleichtert wird Söder sein Konfrontationskurs gegen Berlin dadurch, dass er zwar in Bayern nicht, wie in den Glanzzeiten der CSU, allein regiert, sondern in einer Koalition mit den Freien Wählern. Damit hat Söder, anders als alle anderen unionsgeführten Landesregierungen, keinen der Berliner Ampelpartner am eigenen Kabinettstisch sitzen, er muss keinerlei Rücksicht nehmen. Söders klares Wahlziel ist die Fortsetzung dieser Koalition, Schwarz-Grün dagegen, das nach allen Umfragen in Bayern ebenfalls auf eine klare Mehrheit käme, schließt Söder kategorisch aus.
Auch diese Festlegung klingt zunächst plausibel. Söder beruhigt damit die konservativen CSU-Anhänger, die in den Jahren zuvor immer wieder eine zu große Anbiederung an die Grünen beklagt hatten. Und indem er den Freien Wählern schon vor der Wahl den roten Teppich ausrollt, verhindert er, dass der unberechenbare Freie Wähler-Chef Hubert Aiwanger, vor dessen populistischen Manövern die CSU mehr Angst hat, als sie zugibt, im Wahlkampf die Angst vor einem schwarz-grünen Bündnis schürt und konservative CSU-Wähler zu sich herüberzieht.
Im Söder-Lager werden die Avancen an die Freien Wähler damit begründet, dass eine CSU-Alleinregierung nicht realistisch sei und es von den Wählern als arrogant empfunden werde, wenn die CSU dieses Ziel trotzdem propagieren würde. Doch das sehen längst nicht alle in der CSU so, auch wenn niemand offene Kritik an Söders Wahlkampfstrategie übt. Auch wenn allen klar ist, dass die goldenen Zeiten, als das CSU-Wahlziel stets „50 plus x“ lautete, endgültig vorbei sind – eine Alleinregierung ist damit nicht aus der Welt. Denn dass auch „40 plus x“ für die absolute Mehrheit der Mandate reichen können, hat Söder-Vorgänger Horst Seehofer 2013 mit 47,7 Prozent bewiesen. Zwar war damals die AfD noch nicht im Parlament vertreten, dafür trat die SPD mit dem populären Münchner Oberbürgermeister Christian Ude an und erreichte 20,6 Prozent. Heute müssen die Sozialdemokraten laut Umfragen fürchten, im einstelligen Bereich zu landen. Und auch 2013 kamen Freien Wähler in Bayern schon auf neun Prozent, fast so viel, wie ihnen die aktuellen Umfragen prognostizieren.
Die Söder-Kritiker in der CSU halten es deshalb für höchst fahrlässig, sich schon vor der Wahl so fest an die Freien Wähler zu ketten. „Damit macht man die Freien Wähler salonfähig“, heißt es im Lager der Skeptiker. Angesichts der Schwäche der Oppositionsparteien sei es geradezu die Pflicht, eine absolute Mehrheit anzustreben. „Das Potenzial für eine absolute Mehrheit ist da“, sagt einer der Kritiker.
Der harte Anti-Grün-Kurs Söders verkennt zudem, dass sich die Welt auch nach der Landtagswahl in Bayern weiterdrehen wird. Es gilt in Abwandlung eines alten Spruchs von Sepp Herberger: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Zuerst kommt 2024 die Europawahl, dann 2025 die nächste Bundestagswahl. Und auf Bundesebene gibt es für die CSU, das haben auch die Landtagswahlen in anderen Bundesländern gezeigt, jenseits einer Koalition mit der SPD nur eine strategische Machtoption: ein Bündnis unter Einschluss der Grünen. Entweder als Jamaika-Koalition oder als schwarz-grüne Regierung.
Merz hat das längst verstanden – und Söder dürfte es auch wissen. Fürs Erste hat er sich gleichwohl für eine andere Prioritätensetzung entschieden. Zumal er offenbar hofft, dass die Wähler ihm die eine oder andere Wende nicht länger übel nehmen. Vor zwei Jahren ist ihm das ja auch gelungen.
Doch genau an der Stelle könnte er sich täuschen. Eher wahrscheinlich ist, dass ihm seine Tiraden gegen die Grünen dieses Mal auf die Füße fallen. Eine Wende verzeihen Wählerinnen und Wähler, vor allem dann, wenn sie glaubhaft vorgetragen wird. Aber eine zweite? Und dann auch noch eine dritte? Selbst die Beteuerung, sein Platz sei auch für die Zukunft in Bayern, glauben ihm in der CSU nur noch wenige. Sein heimliches Ziel, so wird in der CSU kolportiert, sei es, besser abzuschneiden als Daniel Günther in Schleswig-Holstein, der seine letzte Landtagswahl mit 43,4 Prozent gewonnen hat. Dann wäre Söder unionsintern der Ministerpräsident mit dem besten Ergebnis und zugleich der bundesweit bekannteste Länderchef. Und dass er in den Beliebtheitsrankings vor CDU-Chef Friedrich Merz liegt, registriert Söder sehr genau.
Und doch: Selbst wenn Merz gegen seinen Bauchwunsch auf eine Kanzlerkandidatur verzichten sollte, hätte sein bayrischer Gegenspieler aktuell schlechte Karten. Zum einen, weil sie ihm seine Anti-Laschet-Äußerungen nicht vergessen haben. Zum anderen stellt sich für die CDU dann die Frage: Warum sollte sie einen Mann nominieren, der die Grünen mal umarmt und dann wieder ohne Punkt und Komma bekämpft? Wahrscheinlicher wäre dann, dass sie einen Ministerpräsidenten aufstellen, der bereits Erfahrungen mit einer schwarz-grünen Regierung hat – und dabei nicht wie ein Wendehals daherkommt. Auch wenn Söder nach der Bayern-Wahl wieder zum Bäume-Umarmer werden sollte (wie 2018): Seine neueste Wende könnte eine zu viel sein.