Ein letztes Mal will Christian Lindner eine große Rede vor den FDP-Delegierten halten. Als noch amtierender Vorsitzender muss er zu Beginn des Bundesparteitags der Liberalen, der am Freitag und Samstag in Berlin stattfindet, den Rechenschaftsbericht ablegen. Doch darin will Linder nicht nur auf die letzten zwei Jahre zurückblicken, in denen er die Partei erst aus der Bunderegierung und dann ganz aus dem Parlament führte. Vielmehr soll es eine Grundsatzrede über liberale Politik werden. Dann endet in der FDP eine Ära.
Christian Dürr soll danach das Ruder wieder herumreißen. Doch Begeisterung und Euphorie, die es für die harte Zeit in der außerparlamentarischen Opposition bräuchte, löst Dürr bislang nur bei Wenigen aus. Das mag daran liegen, dass Dürr einen nicht unwesentlichen Anteil am Misserfolg des letzten Jahres hatte. Als Fraktionschef war er für das Scheitern der Koalition mitverantwortlich. Einen Neuanfang verkörpert er für frustrierte Liberale nicht. Und Dürr hat bislang wenig dazu gesagt, was er anders machen will als Lindner, wie er die Partei in vier Jahren wieder zurück in den Bundestag und auf dem Weg dahin in einige Landesparlamente führen möchte.
Der Niedersachse ist der typische Konsenskandidat. Denn auch wenn das nicht jeder wahrhaben will: Die FDP ist tief gespalten. Sie unterscheidet sich auch dadurch von den im Bundestag vertretenen Parteien, dass sie keine offiziellen, organisierten Parteiflügel oder -strömungen hat. Trotzdem kann man auf die Frage, was Liberalismus eigentlich bedeutet, von Parteimitgliedern höchst unterschiedliche Antworten bekommen. „Der eine Teil der Partei will das Individuum vor der Gemeinschaft schützen und der andere die Gemeinschaft gestalten“, fasst es ein langjähriges Präsidiumsmitglied zusammen. Häufig ist von einem wirtschaftskonservativen auf der einen und einem liberal-konservativen Flügel auf der anderen Seite die Rede. Abwertend bezeichnen sich die Lager gerne als „Libertäre“ und als „Woke“, was die damit Gemeinten jedoch von sich weisen.
Dürrs größter Trumpf: Ihm traut man am ehesten zu, diese Lager zusammenzuführen. Als Fraktionschef ist ihm das lange gelungen. Erst am Ende der Legislaturperiode, als die Angst vor der Wahlniederlage bereits wuchs und Friedrich Merz im Bundestag das Zustrombegrenzungsgesetz zur Abstimmung stellte, wurde offenkundig, dass der „Wir-brauchen-eine-Wirtschaftswende“-Konsens die inhaltlichen Gräben zwar lange verdecken, aber nicht schließen konnte. Andere für den Spitzenposten gehandelte Namen wie Johannes Vogel, Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder Wolfgang Kubicki werden jeweils von einem signifikanten Teil der Partei abgelehnt, weil sie klar für eines der Lager stehen.
Also blieb Christian Dürr. Er wolle für die APO-Zeit ein Team aus alten und neuen Köpfen zusammenstellen, kündigte er intern an. Über Wochen sprach Dürr mit potenziellen Kandidaten, lotete aus, was sich die Basis wünscht und wer für welchen Posten infrage kommen könnte. Mit dem Vorschlag, Nicole Büttner zur Generalsekretärin ernennen zu wollen, gelang ihm ein Coup. Die 40-Jährige ist Gründerin, Investorin und CEO eines KI-Unternehmens. Eine Biografie, die die liberalen Herzen erwärmt.
Doch dahinter ging Dürrs Plan nur in Teilen auf. Der designierte Parteichef wollte dem Parteitag fürs Präsidium ein Team präsentieren, Kampfkandidaturen verhindern und damit an Lindners Stil anknüpfen. Wenn es um Posten geht, scheut man den Wettbewerb in der selbsternannten Wettbewerbspartei in der Regel. So sind die Namen für die drei stellvertretenden Parteichefs klar: Wolfgang Kubicki, der das Amt schon seit 2013 innehat, will weitermachen. Europaparlamentarierin Svenja Hahn wurde von Strack-Zimmermann vorgeschlagen, die sich selbst damit aus dem Rennen nahm. Und der mächtige NRW-Landesverband nominierte seinen Vorsitzenden Henning Höne, der sich schon lange vorstellen konnte, mehr Verantwortung auf der bundespolitischen Bühne zu übernehmen.
Für die drei weiteren Beisitzerposten konnte Dürr eine Kampfkandidatur nicht verhindern. Sachsen-Anhalts Verkehrsministerin Lydia Hüskens und die rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerin Daniela Schmitt treten zur Wiederwahl an. Außerdem bewerben sich Lindners ehemaliger Parlamentarischer Staatssekretär Florian Toncar aus dem mächtigen Landesverband Baden-Württemberg sowie Susanne Seehofer, die vom bayerischen Landesverband und den Jungen Liberalen nominiert wurde. Seehofer soll Dürrs Wunschkandidatin gewesen sein, heißt es aus Parteikreisen. Schmitt, so ist zu hören, wollte er als Landesministerin ins Präsidium kooptieren und sie so von einer Kandidatur auf dem Parteitag abhalten. Doch damit konnte sich Dürr nicht durchsetzen. Manch einer sieht darin bereits ein Indiz, dass er nicht die nötige Führungsstärke mitbringe.
Das Dilemma: Vermutlich kommt es auf dem Parteitag zum Duell Schmitt gegen Seehofer. Schmitt, die viele als zu blass wahrnehmen, soll die FDP im nächsten Jahr als Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl wieder ins Parlament, am besten sogar wieder in die Regierung führen. Verliert sie, würde die Partei ihre eigene Spitzenkandidatin unnötig diskreditieren. Die Tochter des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten dagegen könnte der FDP in der APO-Zeit mediale Aufmerksamkeit einbringen und wäre neben Büttner das einzige wirklich neue Gesicht in der Parteispitze. „Wir können nur dann glaubhaft mehr Disruption in Staat und Wirtschaft fordern, wenn wir selbst dazu bereit sind“, sagt Seehofer Table.Briefings.
Nach den Wahlen wird sich die Partei mit der inhaltlichen Neuausrichtung befassen. Verschiedene Gruppen und Einzelpersonen haben in den vergangenen Wochen Analysen zur Wahlniederlage geschrieben, die zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Henning Höne spricht sich für ein neues Grundsatzprogramm aus: „Das letzte Grundsatzprogramm der Freien Demokraten stammt aus dem Jahr 2012 – das war vor der Flüchtlingskrise, vor der Annexion der Krim und dem russischen Angriff auf die Ukraine, vor der Corona-Pandemie, vor dem KI-Boom“, sagt er Table.Briefings. Daher brauche die Partei ein neues Grundsatzprogramm als „Positionsbestimmung und um wieder programmatische Strahlkraft für die Zukunft zu entwickeln“.