Der Konflikt um die Blockadeaktionen von Klimaschützern wird hitziger und droht über die Feiertage zu eskalieren. Zuletzt ließ die Staatsanwaltschaft in Neuruppin bundesweit Wohnungen von Aktivisten der „Letzten Generation“ durchsuchen und prüft den Anfangsverdacht zur Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Im brandenburgischen Schwedt hatten die Aktivisten Pumpstationen manipuliert und die Ölzufuhr zu einer Raffinerie unterbrochen. Zuvor hatte die Gruppe immer wieder mit Sitzblockaden auf Straßen sowie Aktionen in Museen von sich reden gemacht. Dann aber auch den Flugverkehr in München und Berlin gestört.
Die Aktivisten kündigten an, ihren Widerstand zu verstärken und sprechen nun von einem „Einschüchterungsversuch“. Auch das pauschale Verbot von Blockadeaktionen der Stadt München dürften sich die Protestierer kaum aufhalten lassen. Zumal das Verbot verfassungsrechtlich zweifelhaft ist, da es gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit verstoßen könnte.
Zugleich steigt die Wut betroffener Autofahrer. Einige von ihnen zerren Demonstrierende gewaltsam von den Straßen. Die Union fordert Strafverschärfungen gegen Blockierer. Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt warnte vor der Entstehung einer „Klima-RAF“.
Die Justiz gibt bislang keine einheitliche Antwort auf den Konflikt. Überwiegend werden die Protestierenden verurteilt, zum Teil auch freigesprochen. Carla Hinrichs, Pressesprecherin der „Letzten Generation“, sagt, „dass ziviler Widerstand gegen einen Regierungskurs, der immer tiefer in die Klimakrise führt, moralisch und juristisch gerechtfertigt“ sei. Demgegenüber argumentiert der frühere BGH-Strafrichter und Professor Thomas Fischer in der Legal Tribune Online, „ziviler Ungehorsam“ sei „ein klassischer Kampfbegriff und keine juristische Kategorie“. Straßenblockaden seien in der Regel rechtswidrige Nötigungen, gegen die sich Autofahrer grundsätzlich auch mit Gewalt wehren dürften, wenn keine schnelle Hilfe durch die Polizei zu erwarten sei.
Tatsächlich sind „ziviler Widerstand“ und „ziviler Ungehorsam“ keine juristischen Begriffe. Sie sind weder per se strafbar, noch eine Rechtfertigung für Aktionen. Diese sind anhand der einschlägigen Strafvorschriften zu bewerten. Zentrale und umstrittenste Norm bei Blockaden ist dabei die Nötigung.
§ 240 des Strafgesetzbuchs droht Haftstrafen bis zu drei Jahren an, wenn Menschen „rechtswidrig mit Gewalt“ zu etwas genötigt werden. Bei Straßenblockaden werden die Autofahrer am Weiterfahren gehindert. Die „Letzte Generation“ argumentiert, dies geschehe gewaltfrei, da sich die Aktivisten lediglich auf dem Straßenbelag festklebten. Der Bundesgerichtshof beurteilt Straßenblockaden dagegen als Gewalt. Die – umstrittene – Begründung: Die erste Reihe der Autofahrer werde zwar nur psychisch am Weiterfahren gehindert. Die Autofahrer dahinter würden dann aber durch die erste Reihe physisch blockiert. Dies sei den Protestierern als Gewalt zuzurechnen.
Eine Nötigung ist jedoch nur dann rechtswidrig, wenn „die Anwendung der Gewalt … zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist“, wie es im Gesetz heißt. Es müssen also Ziele und Mittel der Protestierer gegen die Beeinträchtigungen der Blockierten abgewogen werden. Grundrechte gegen Grundrechte. Die Gerichte argumentieren meist, es sei verwerflich, wenn Aktivisten ihre politischen Ziele verfolgten, indem sie Unbeteiligte beeinträchtigten. Die Aktivisten könnten sich zwar auf ihr Versammlungsrecht nach Artikel 8 Grundgesetz berufen. Dieses werde aber durch Gesetze wie die Straßenverkehrsordnung beschränkt.
Einige Amtsrichter, zuletzt im November in Freiburg und Berlin, kommen jedoch zu Freisprüchen, weil die Angeklagten nicht verwerflich gehandelt hätten. Die Aktivisten setzten sich für den Klimaschutz ein, der im Interesse der Allgemeinheit liege. Die Klimakrise sei dringlich und die Politik reagiere unzureichend, wie die meisten Wissenschaftler bestätigten. Zudem seien viele blockierte Autofahrer keine Unbeteiligten, weil sie durch ihren Benzin- oder Diesel-Verbrauch zur Klimaerwärmung beitrügen.
Das Amtsgericht Flensburg geht beim Freispruch eines Baumbesetzers noch weiter. Der Angeklagte habe in einem „rechtfertigenden Notstand“ gehandelt, der in § 34 StGB geregelt ist. Der Klimawandel sei ein solcher Notstand. Er erfordere ein sofortiges Eingreifen. Der Staat aber handle nicht ausreichend. Viele andere Gerichte und Experten lehnen eine solche Argumentation ab. Sie verweisen auf das staatliche Gewaltmonopol und darauf, das Handeln der Regierung sei demokratisch legitimiert. Demokratische Mehrheitsentscheidungen dürften nicht unter Verweis auf die Moral oder ein Naturrecht ausgehebelt werden.
Im Kern geht es um die Frage, ob die Klimakrise so akut und das Versagen der Staaten so eklatant ist, dass Aktivisten andere Bürger erheblich stören dürfen, um die Öffentlichkeit aufzurütteln und einen Meinungsumschwung beim Klimaschutz zu erreichen. Letztlich wird das Bundesverfassungsgericht dies klären müssen. Karlsruhe hat bereits gezeigt, dass es den Klimaschutz sehr ernst nimmt. So stellte das Gericht am 29. April 2021 fest, das Grundgesetz verpflichte den Staat, die Bürger vor dem Klimawandel zu schützen und die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Die nötigen Beschränkungen der Freiheiten der Bürger dürften nicht einfach auf künftige Generationen abgewälzt werden.
Die Verfassungsrichter verweisen auf Artikel 20a des Grundgesetzes, der den Staat verpflichtet, die natürlichen Lebensgrundlagen auch für künftige Generationen zu schützen. Diese Norm binde „den politischen“ Prozess; und sie lasse das Gewicht des Klimaschutzes bei Abwägungen zunehmen. Straßenblockierer dürfte das Hoffnung geben, mit ihren Argumenten in Karlsruhe Gehör zu finden. Von Stefan Ulrich