Vier Monate ist es her, dass das Kabinett die Kindergrundsicherung, das größte sozialpolitische Vorhaben der Ampel-Koalition, auf den Weg gebracht hat. Verabschiedet hat es der Bundestag noch immer nicht, die Einführung zum 1. Januar 2025 ist schon länger nicht mehr realistisch – und jetzt melden Fachleute auch noch rechtliche Bedenken an. Ein Aspekt betrifft die geplante Ausnahme für Flüchtlingskinder: Solange ihre Familien keine Asylzusage haben, sollen sie niedrigere Leistungen bekommen. Das Kanzleramt will, dass das so bleibt, weil Menschen sonst Anreize zum Zuzug nach Deutschland haben könnten – auch wenn Studien dieser Behauptung widersprechen. Dazu kommt, dass betroffene Kinder – so der Plan von Lisa Paus – mit Einführung der Kindergrundsicherung die monatlichen 20 Euro Sofortzuschlag verlieren, die alle Kinder aus bedürftigen Familien seit Juli 2022 erhielten.
Nun hat aber das Bundesverfassungsgericht 2022 entschieden, dass „migrationspolitische Erwägungen“ nicht rechtfertigen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge unter das Existenzminimum zu senken. Zudem müsse eine „menschenwürdige Existenz“ von Beginn des Aufenthalts an in der Bundesrepublik gewährleistet sein. Wenn der Gesetzgeber der Meinung sei, dass sich Menschen nur kurze Zeit hier aufhalten werden und darum mit weniger Geld auskommen, ist das aus Sicht des Gerichts empirisch oder plausibel nachzuweisen. Das habe das Bundesfamilienministerium nicht getan, findet die Rechtsprofessorin Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt. Aus ihrer Sicht ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Ungleichbehandlung von Kindern zudem gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verstößt.
„Die Bundesregierung spielt hier auf Zeit“, sagt Lenze, da eine Entscheidung aus Karlsruhe erfahrungsgemäß jahrelang auf sich warten lassen werde. Sie verweist darauf, dass die Richter 2012 in einem ähnlichen Fall klar entschieden haben. 2011 führte Sozialministerin Ursula von der Leyen die sogenannten Leistungen für Bildung und Teilhabe für arme Familien ein, von denen Asylbewerber-Kinder ursprünglich ausgeschlossen werden sollten. Das Gericht erklärte das für verfassungswidrig. Auf die Frage, warum Kinder, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, nicht einbezogen werden soll, erklärt das BMFSFJ, dies sei im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen gewesen.
Juristin Lenze sieht das kritisch, genau wie die geplanten Regelungen zum Unterhaltsvorschuss. Hier sollen Kinder ebenfalls ungleich behandelt werden, diesmal je nach Alter. Bis zu ihrem siebten Geburtstag wird der Vorschuss den bisherigen Plänen zufolge nur noch zu 45 statt zu 100 Prozent angerechnet, sodass Alleinerziehende mehr Geld als früher behalten können. Kinder ab sieben Jahren sollen den Unterhaltsvorschuss nur bekommen, wenn der alleinerziehende Elternteil mindestens 600 Euro im Monat verdient. Bisher gilt diese Einschränkung erst ab zwölf Jahren. Die offizielle Begründung: Erwerbsanreize. Wenn das Kind schon in die Schule gehe, hätten die Mutter oder der Vater Zeit, sich Arbeit zu suchen.
Der Ökonom Holger Stichnoth vom Mannheimer ZEW gibt zu bedenken, dass beim üblichen Geburtenabstand die herabgesetzte Altersgrenze die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass jüngere Geschwister in dem Haushalt leben, die Betreuung erfordern. In diesem Fall könnte es also schwierig sein, arbeiten zu gehen, wenn man beispielsweise keinen Kitaplatz findet.
Juristin Lenze teilt in einer neuen Stellungnahme der Bertelsmann-Stiftung diese Bedenken. Der Unterhaltsvorschuss als über das Existenzminimum hinausgehende Sozialleistung gebe dem Gesetzgeber zwar mehr Gestaltungsspielraum. Die Stärkung von Erwerbsanreizen als Begründung für eine Ungleichbehandlung stelle jedoch ein „sachfremdes und willkürliches Argument“ dar – zumal das Gesetz keine Ausnahmeregelungen vorsieht. Die Professorin nennt hier neben fehlenden Betreuungsmöglichkeiten für kleine Geschwister etwa die gesundheitliche Einschränkung des Elternteils oder des Kinds. Sie könnten einer Arbeitsaufnahme im Weg stehen.
Das BMFSFJ teilt auf Anfrage mit, durch die Änderungen im Unterhaltsvorschussgesetz werde kein anspruchsberechtigtes Kind in einem Alleinerziehendenhaushalt finanziell schlechter dastehen. Auch künftig werde „das Existenzminimum eines jeden Kindes sichergestellt sein“. Für Haushalte mit schulpflichtigem Nachwuchs und geringem oder keinem Einkommen ändere sich im Kern nichts: Es trete nur der Kinderzusatzbetrag an die Stelle des Unterhaltsvorschusses und des in manchen Fällen ergänzend bezogenem Bürgergeldes.
Fachleute sehen in dem vom BMFSFJ vorgelegten Gesetzentwurf darüber hinaus auch europarechtliche Bedenken.Dabei geht es um den Kindergarantiebetrag, der das derzeitige Kindergeld ersetzen und unabhängig vom Einkommen der Eltern ausgezahlt werden soll. Menschen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, die zum Zweck der Jobsuche in Deutschland sind, haben in den ersten drei Monaten nach ihrer Ankunft keinen Anspruch auf Kindergeld. Dies soll laut Gesetzentwurf auch für den Kindergarantiebetrag gelten. Der Europäische Gerichtshof hat allerdings bereits 2022 entschieden, dass dies nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Das Kindergeld werde europarechtlich als Familieneistung verstanden, „die darauf abzielt, Familienlasten auszugleichen“, erklärt Claudia Hofmann, Professorin für öffentliches Recht und europäisches Sozialrecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Für diese gebe es eine „Exportpflicht“, also auch ein Anrecht ab Ankunft in Deutschland.
Die Bundesregierung hat auf dieses Urteil bislang nicht reagiert. Auf Anfrage verweist ein Sprecher von Paus auf das Finanzministerium, welches die Umsetzung des EuGH-Urteils „noch nicht auf den Weg gebracht“ habe. Ein BMF-Sprecher verweist auf eine Umsetzung im Jahressteuergesetz. Dieses ist noch nicht durch, weil es mit dem im Vermittlungsausschuss steckenden Wachstumschancengesetz verknüpft ist. Das Bundeszentralamt für Steuern habe die Familienkassen bereits im September 2022 an, das EuGH-Urteil zu beachten und umzusetzen, heißt es aus dem Finanzressort. An den „unionsrechtswidrigen Regelungen“ für den Kindergarantiebetrag ändert das aus Sicht von Juristin Hofmann jedoch nichts.
Die vielen juristischen Bedenken dürften auch ein Grund dafür sein, dass sich die Verhandlungen zur Kindergrundsicherung in die Länge ziehen. Seit der ersten Lesung im vergangenen November befassen sich die zuständigen Berichterstatter der drei Ampel-Fraktionen mit dem Gesetzentwurf. Einen Termin für die Verabschiedung im Parlament gibt es derzeit noch nicht.