Analyse
Erscheinungsdatum: 04. Mai 2025

Inklusion und Teilhabe: Wo die größten Baustellen liegen

Seit gut 30 Jahren steht im Grundgesetz, dass Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen. Die Realität sieht anders aus, die neue Bundesregierung will das – wieder mal – ändern.

Rund 13 Millionen Menschen in Deutschland haben eine körperliche oder sogenannte geistige Beeinträchtigung, fast acht Millionen davon sind schwerbehindert. Erst Ende 1994 wurde Artikel 3 des Grundgesetzes dahingehend geändert, dass das sogenannte Benachteiligungsverbot auch für Behinderungen gilt. Noch mal bis 2002 dauerte es bis zum Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) folgte vier Jahre später. Seither steht in jedem Koalitionsvertrag, dass Betroffenenrechte gestärkt werden sollen. In der Praxis durchgesetzt werden sie meistens aber noch immer nicht.

In der Vereinbarung von Union und SPD nimmt das Thema sogar eine ganze Seite ein. „Wir setzen uns für eine inklusive Gesellschaft im Sinne der VN-Behindertenrechtskonvention ein, in der Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe verwirklichen können“, heißt es dort etwa. 16 Jahre ist her, dass die Konvention in Deutschland in Kraft trat. Ihre Umsetzung beobachtet das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR). Es kritisierte Anfang 2025, Betroffene blieben „in nahezu allen Lebensbereichen“ benachteiligt und empfahl der neuen Bundesregierung, den Behindertenbeauftragten im Kanzleramt anzusiedeln.

Schon 2023 bemängelte ein UN-Fachausschuss die feste Verankerung von speziellen Heimen, Schulen und Werkstätten in deutschen Gesetzen. Ein Ausschussmitglied, ein Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, verglich das sogar mit der früheren Segregation von Schwarzen und Weißen in den USA. Kritik kommt auch vom Deutschen Behindertenrat (DBR), einem Zusammenschluss verschiedener Organisationen. Vor allem in den Bereichen Bildung und Arbeit würden Betroffene „in Sonderwelten abgedrängt“, sagte Martin Dänner, Geschäftsführer der BAG Selbsthilfe, Table.Briefings. Auch wenn Deutschland im internationalen Vergleich ein gutes Versorgungsniveau habe, seien die Sozialsysteme zu kompliziert. Es fehle an konkreten Rechten, um effektiv gegen Diskriminierungen und Barrieren vorzugehen.

Fehlende Barrierefreiheit ist im Alltag denn auch die sichtbarste Ausprägung des Problems. Davon zeugen beispielsweise die unzähligen Berichte in den sozialen Netzwerken von Menschen im Rollstuhl, die mit der Deutschen Bahn reisen wollen. Zudem sind noch nicht mal die bundeseigenen Bauten ohne Einschränkungen betretbar, obwohl das schon vor 23 Jahren als Ziel im BGG stand. Laut Koalitionsvertrag soll dies nun bis 2035 der Fall sein. Als Kernproblem gilt außerdem, dass der Privatwirtschaft bisher keine Verpflichtungen auferlegt wurden.

Ende Juni ändert sich das mit Inkrafttreten des auf einer EU-Richtlinie beruhenden Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes. Betroffen sind allerdings nur digitale Produkte und Dienstleistungen wie Handys und Computer, Onlineshops und -banking sowie Bank- und Fahrkartenautomaten. Halten sich Anbieter nicht daran, drohen Bußgelder oder sogar Vertriebsverbote. Es gibt aber Ausnahmen, etwa für Unternehmen mit unter zehn Beschäftigten sowie einem Jahresumsatz unter 2 Millionen Euro. Die Überwachung der Vorgaben obliegt einer neu eingerichteten Behörde in Magdeburg mit 70 Mitarbeitenden.

Verabschiedet haben das Gesetz SPD, Grüne und FDP.Trotz ambitionierter Versprechen habe die Ampel-Koalition insgesamt aber zu wenig gemacht, sagte die Grünen-Fachpolitikerin Corinna Rüffer Table.Briefings. Gründe waren aus ihrer Sicht „die Krisen der letzten Jahre und eine angespannte Haushaltslage, aber auch mangelnder politischer Wille der Koalitionspartner und der Einfluss starker Lobbyinteressen“. Weil die Umsetzung von Barrierefreiheit Unternehmen Geld kostet, sträuben sich diese naturgemäß dagegen.Die alte Bundesregierung hatte auch eine Reform des BGG mit der Ausweitung von Vorgaben auf private Anbieter geplant, was aber von der FDP blockiert wurde.

Der Sozialverband VdK mahnt angesichts eines jährlichen europäischen Protesttags am 5. Mai an, die Privatwirtschaft stärker in die Verantwortung zu nehmen. Im Alltag würden Menschen mit Beeinträchtigungen oft daran scheitern, „dass Rampen oder Fahrstühle, Blindenschrift, akustische Signale, Leichte Sprache und vieles mehr fehlen“. Fortschritte brauche es auf dem Arbeitsmarkt, etwa durch eine Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen. Viele Unternehmen halten sich auch nicht an gesetzliche Vorgaben: Ab 20 Stellen müssen sie mindestens fünf Prozent davon mit Schwerbehinderten besetzen. Tun sie das nicht, müssen sie eine „Ausgleichsabgabe“ zahlen, die sie aber von der Steuer absetzen können.

Die Arbeitslosenquote unter Menschen mit Schwerbehinderung ist mit zuletzt 11,6 Prozent circa doppelt so hoch wie bei jenen ohne. Von den Betroffenen zwischen 15 bis unter 65 Jahren waren laut den aktuellsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit 2022 nur etwas über die Hälfte erwerbstätig, in der übrigen Bevölkerung waren es rund 80 Prozent. Rund 300.000 Menschen arbeiten darüber hinaus in sogenannten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), erhalten im Schnitt aber nur rund 220 Euro im Monat dafür. Wechsel von dort auf den regulären Arbeitsmarkt kommen so gut wie nicht vor.

CDU/CSU und SPD wollen auch das ändern. Der zuständige Unionsbeauftragte Wilfried Oellers kündigte bereits einen „Neustart“ in Sachen Inklusion an. Eine entscheidende Frage wird, wie es mit dem in vier Stufen bis 2023 eingeführten Bundesteilhabegesetz weitergeht. Das BMAS, das Mitte Mai seine jährlichen „Inklusionstage“ veranstaltet, legte kürzlich eine Evaluation vor. Das Gesetz sieht unter anderem passgenaue Assistenzleistungen und ein verbessertes Wunsch- und Wahlrecht bei der Wohnform vor. Städte und Gemeinden klagen allerdings über hohe Kosten, weshalb die neue Koalition „eventuelle Änderungsbedarfe unter anderem zum Bürokratieabbau identifizieren“ und dabei Pauschalierungen zur Kostensenkung prüfen will.

Auf grundlegende Verbesserungen bei Inklusion und Teilhabe drängen unterdessen nicht nur Betroffene und Verbände, sondern auch die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern. Ende 2024 verabschiedeten Sie den sogenannten Bremer Appell mit Forderungen an alle Ebenen des Staates. Jürgen Dusel, der scheidende Bundesbeauftragte, sagte in dem Zusammenhang, wichtige Vorgaben würden oft hinausgezögert: „Damit wird Politik unglaubwürdig und verspielt Vertrauen.“

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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