Wer wissen will, wie die politische Welt von Hubert Aiwanger aussieht, braucht sich keine große Mühe zu geben. Aiwangers Mitteilungsdrang via X (ehemals Twitter) ist ungebremst und seine Wortwahl derb. „Diebstahl durch Migranten sollte zur Abschiebung führen. Aber wir bekommen ja nicht mal die Gewalttäter außer Landes“, twitterte er in den Weihnachtsferien, nachdem Bild das Thema groß aufgemacht hatte. Auch auf die Empörung der Bauern über die Kürzungspläne beim Agrardiesel ist Aiwanger sofort auf seine Weise aufgesprungen. „Jeder Taugenichts wird von der Ampel besser behandelt als unsere Bauern, die uns ernähren“, wetterte er. Taugenichtse sind in Aiwangers Augen auch Arbeitslose, die Arbeit ohne triftigen Grund ablehnen und Politiker, die dagegen nichts unternehmen. Vieles, was Aiwanger von sich gibt „könnte auch von der AfD kommen“, urteilt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
Die Affäre um ein antisemitisches Flugblatt, das in seiner Schulzeit in seiner Schultasche gefunden worden war und zu dessen Urheberschaft sich dann sein Bruder bekannt hatte, hat den bayerischen Landespolitiker endgültig zu einer bundespolitischen Figur gemacht. Hubert Aiwanger wird inzwischen auch in die großen Talkshows eingeladen, sehr zum Ärger der CSU und ihres Chefs Markus Söder, der ihm die Aufmerksamkeit offenbar neidet.
Aiwanger hat sich zum Opfer einer Medienkampagne inszeniert – auch wenn der Presserat inzwischen alle Beschwerden gegen die Süddeutsche Zeitung, die die Affäre aufgedeckt hatte, zurückgewiesen hat. Die Masche verfing, sogar bei CSU-Anhängern. „Aiwanger wurden in den Bierzelten gefeiert wie ein Rockstar“, sagt Florian Streibl, Fraktionschef der Freien Wähler im Münchner Landtag über die Endphase des Wahlkampfes. Ministerpräsident Söder hätte bei einer Entlassung Aiwangers vor der Landtagswahl im Oktober riskiert, das Ergebnis für die Freien Wähler noch weiter nach oben zu treiben.
Aiwanger sieht das Rekordwahlergebnis von 15,8 Prozent für die Freien Wähler offenbar nicht nur als Freispruch für sich in der Flugblatt-Affäre, sondern betrachtet es auch als Freibrief, genauso weiterzumachen wie bisher. Von Mäßigung oder gar Demut ist nichts zu spüren. „Wie viel Demut muss man denn zeigen, wenn man sich entschuldigt“, hat er vor ein paar Wochen bei „Maischberger“ gesagt.
In den Koalitionsverhandlungen mit der CSU hat sich Aiwanger ein bizarres Zugeständnis herausgehandelt, das er seither für seine politischen Ziele nach Kräften ausschlachtet. Aiwanger hat für seine Partei zwar nicht wie erhofft das Landwirtschaftsministerium als viertes Ressort bekommen, sondern musste sich mit dem kleinen und mit wenig Kompetenzen ausgestatteten Digitalressort begnügen. Doch er erhielt als Wirtschaftsminister die Zuständigkeit über den Staatsforst und das Jagdwesen, dafür wurde die Zuständigkeit für den Tourismus ins Agrarressort verschoben, wo das Thema ebenso wenig hingehört wie Forste und Jagd zur Wirtschaft. Der CSU-Chef soll in Gremiensitzungen der Partei diesen Tausch als seine eigene Idee dargestellt haben, um den Eindruck zu vermeiden, Aiwanger habe ihm diesen Kompetenzgeschacher abgepresst. Und um weitergehende Wünsche Aiwangers abzuwehren. Ein Zeichen von Stärke gegenüber einem noch nicht mal halb so großen Koalitionspartner war das nicht.
Für Aiwanger dagegen passen die neuen Zuständigkeiten sehr gut in sein politisches Kalkül. Seine Strategie fußt nicht darauf, die Basis seiner Partei zu verbreitern, um so zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Sondern bestimmte Zielgruppen anzusprechen, die für seine Botschaften empfänglich sind und auf diese Weise weitere Wähler zu mobilisieren. Aiwangers großes Thema ist dabei der Gegensatz zwischen Stadt und Land. Hier die Städter, in denen die Grünen mit ihrer woken Agenda den Ton angeben und allen anderen ihren Lebensstil aufzwingen wollen. Dort das Land, wo der gesunde Menschenverstand zu Hause ist und die Bewohner durch Verbote aller Art in ihrer Existenz bedroht werden. Der Streit um den Agrardiesel kommt Aiwanger da wie gerufen.
Sein eigentliches politisches Ziel ist es, über ein gutes Ergebnis bei der Europawahl die Grundlage für einen Sprung nach Berlin bei der Bundestagswahl 2025 zu schaffen. Um sich dort als Koalitionspartner bei der Regierungsbildung anzudienen. Kurz vor Weihnachten postete Aiwanger die Sonntagsfrage von infratest dimap, die die die Freien Wähler bei vier Prozent sah. „Wird schon. 2025 in den Bundestag für eine bürgerliche Regierung ohne grüne Weltuntergangsideologie“, schrieb er dazu.
Aiwanger blendet dabei offenbar die Frage aus, woher er die Wähler für einen Erfolg auf Bundesebene holen will. Grüne und SPD, mit denen er bei der Landtagswahl 2013 noch ein Bündnis gegen die CSU bilden wollte, sind für Aiwanger längst mehr als nur politische Gegner, in seiner Wortwahl werden sie zu Feinden. Die FDP krebst selber an der Fünf-Prozent-Marke herum, und die Union liegt in den Umfragen gerade mal knapp über 30 Prozent. Zusätzliche Stimmen für die Freien Wähler können eigentlich nur von ganz rechts kommen, aus dem Reservoir der AfD. Aiwanger verbucht es ganz offen als seinen Erfolg, die AfD bei der Landtagswahl in Bayern entscheidend geschwächt und damit Schwarz-Grün verhindert zu haben. Aus Sicht der Politikwissenschaftlerin Münch ist die Vorstellung, ein Bollwerk gegen die AfD zu sein, auch für die Freien Wähler ein „bequemes Argument“, den populistischen Kurs ihres Vorsitzenden weiter mitzutragen. „Man redet sich die Welt schön“, sagt sie.
Das Risiko wird dabei ausgeblendet, auch wenn das Unbehagen in der gesamten Partei darüber spürbar ist. Aiwangers populistischer Rechtsdrall könnte aus einer Wählervereinigung, das sich vor allem als kommunalpolitisch-pragmatisch verstanden hat, eine Partei rechts von der Union machen. Das aber wollen viele auf keinen Fall. Sollten die Freien Wähler es in den Bundestag schaffen, müssten sie sich dort „in das liberale Spektrum eingruppieren“, sagt etwa Fraktionschef Florian Streibl im Gespräch mit Table-Media. Streibl ist der Sohn des ehemaligen CSU-Ministerpräsidenten Max Streibl und nach dessen erzwungenen Rücktritt im Jahr 1993 aus Enttäuschung aus der CSU ausgetreten. Einige Jahre später landete er bei den Freien Wählern. Streibl ist damit so etwas wie der Prototyp der Freien Wähler in Bayern: liberal-konservativ, pragmatisch-gemäßigt, CSU-nah.
Ein Rechtsruck der Freien Wähler wäre in Streibls Augen eine Katastrophe. „Wenn sich die Freien Wähler so entwickeln, dass sie rechts von der CSU stehen, sind es nicht mehr die Freien Wähler“, sagt er. Für diesen Fall prophezeit er „massive Widerstände an der Basis“. Wenn Streibl über Aiwanger redet, spürt man eine Menge Ambivalenz. Man tue Aiwanger Unrecht, wenn man ihn in die rechte Ecke schiebe, sagt er einerseits, um anderseits nachzuschieben: „Manchmal schießt er übers Ziel hinaus“.
Auch in der CSU wird Aiwanger inzwischen als echte Gefahr gesehen, das persönliche Verhältnis zwischen ihm und Söder gilt als nahezu zerrüttet. „ Die ganz dicken Freunde werden die sicherlich nicht mehr“, um-schreibt Streibl die Spannungen diplomatisch. Mancher in der CSU fragt sich inzwischen, ob es nicht ein schwerer Fehler war, sich 2018 auf eine Koalition mit den Freien Wählern eingelassen zu haben, statt mit SPD und Grünen. „Wir alle haben den Aiwanger unterschätzt“, gibt der ehemalige CSU-Chef Erwin Huber zu.
So hat sich die CSU den größten Konkurrenten ins Haus geholt und damit salonfähig gemacht. Es ist eben ein großer Unterschied, ob ein Oppositionspolitiker im eigenen Auto über die Dörfer tingelt, wie es Aiwanger in seinen Anfangsjahren getan hat. Oder ob der stellvertretende Ministerpräsident mit Dienstlimousine und Begleittross vorfährt. „Bei der CSU“, sagt Streibl, „geht es um einen Überlebenskampf und der Hauptgegner heißt Hubert Aiwanger.“
Korrekturhinweis: Wir hatten in einer früheren Fassung an einer Stelle versehentlich Max statt Florian Streibl geschrieben. Die Stelle wurde korrigiert. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.