Seit er in den politischen Ruhestand gegangen ist, äußert er sich nicht mehr zu tagesaktuellen Fragen. Dabei hätte Horst Seehofer, der ehemalige CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident, eine Menge zu sagen. Zum Zustand der Union etwa, oder zum Wahlkampf seiner eigenen Partei unter seinem ungeliebten Nachfolger Markus Söder. Er gibt Ratschläge, das schon, aber öffentlich schweigt er.
Jetzt aber hat Seehofer eine Ausnahme gemacht. Den Asylkompromiss der EU, den Innenministerin Nancy Faeser mit ausgehandelt hat und der vor allem bei den Grünen für reichlich Ärger gesorgt hat, lobt Seehofer ausdrücklich. „Für den Augenblick ist das ein großer Erfolg“, sagt der Vorgänger von Faeser im Gespräch mit Berlin.Table. Für den Augenblick, sagt Seehofer – und macht damit deutlich, dass bei der Umsetzung noch eine Menge Arbeit nötig ist, damit am Ende wirklich eine Verbesserung steht. Seehofers Ziel: Nicht die Kritiker sollen am Ende Recht behalten.
Dass Seehofer, der in seiner aktiven Zeit keinem Streit aus dem Weg gegangen ist, vor allem keinem Streit mit seinen eigenen Parteifreunden, sich jetzt so dezidiert äußert, ist kein Zufall. Die Flüchtlings- und Migrationspolitik ist in seiner langen Karriere die Herausforderung seiner späten Jahre geworden. Als Kanzlerin Angela Merkel im Spätsommer 2015 die Grenzen nicht schloss, um die syrischen Flüchtlinge ins Land zu lassen, die in Ungarn festsaßen, war Seehofer noch Ministerpräsident. Er hat diese Entscheidung Merkels immer für einen Fehler gehalten und dies auch deutlich gesagt. Unermüdlich forderte Seehofer eine Obergrenze für Flüchtlinge, was von Merkel ebenso unermüdlich abgelehnt wurde.
Als Seehofer nach einem innerparteilichen Machtkampf mit Söder erst sein Amt als Ministerpräsident aufgeben musste und kurz danach auch als CSU-Chef zurücktrat, war es keineswegs sein Lebenstraum, Innenminister zu werden. Seehofer wäre in der nach mühsamen Verhandlungen zustande gekommenen Neuauflage der großen Koalition im Herbst 2017 am liebsten Arbeits- und Sozialminister geworden. Doch die SPD hatte für ihre Bereitschaft, nochmals als Juniorpartner unter eine Kanzlerin Merkel zur Verfügung zu stehen, massive personelle Zugeständnisse erzwungen, das Arbeits- und Sozialministerium wollten die Sozialdemokraten auf keinen Fall hergeben.
Also wurde Seehofer, der zu diesem Zeitpunkt noch CSU-Chef war und damit von der politischen Kleiderordnung her Anspruch auf ein wichtiges Ressort hatte, Innenminister. Mit einem Mal war er in einer zentralen Funktion für die Flüchtlings- und Migrationspolitik zuständig. Der Streit zwischen Merkel und Seehofer in dieser Frage, der vorher schon heftig gewesen war, eskalierte immer weiter. Um ein Haar wäre es deswegen zum Bruch zwischen CDU und CSU gekommen. Dabei leistete sich Seehofer selbst manchen verbalen Ausrutscher. Etwa, als er im Sommer 2018 sagte, ausgerechnet an seinem 69. Geburtstag seien 69 Personen in einer Sammelabschiebung nach Afghanistan zurückgeführt worden, um flapsig hinzuzufügen: „Das war von mir nicht so bestellt“.
Die Schärfe der Auseinandersetzung in der Migrationspolitik hat verdeckt, dass Seehofer eigentlich nie zu den konservativen Hardlinern in der Union gehörte. Seine Überzeugung war immer, dass in der miserabel organisierten europäischen Flüchtlingspolitik eine verlässliche Ordnung geschaffen werden müsse, ohne dabei humane Standards über Bord zu werfen, die den Salvinis und Orbans dieser Welt völlig egal sind. „Wenn man Ordnung schafft, dann schafft das automatisch mehr Humanität“, sagt er auch heute.
Mit seinem eigenen Versuch, als Innenminister eine europäische Lösung herbeizuführen, ist Seehofer 2019 gescheitert. Union und SPD sind sich damals laut Seehofer über zwei Dinge einig gewesen, die auch im jetzigen Kompromiss eine entscheidende Rolle spielen : Vorverfahren an den Außengrenzen und danach eine gerechte Verteilung der geflüchteten Menschen innerhalb Europas. Doch dazu kam es damals nicht. Und für Seehofer hat das nicht nur an den Hardlinern in Polen, Ungarn und dem besonders hemmungslos agierenden italienischen Innenminister Matteo Salvini gelegen, der Flüchtlinge schon mal als willkommenes „Menschenfleisch“ für die Seenotretter bezeichnet hatte.
Aus Sicht des Ex-Ministers lag das an einer Erwartung und einer Furcht, die sich in den EU-Südländern breit gemacht hatte. Der Erwartung, dass Deutschland wie 2015 schon einen Hauptteil übernehmen werde, sollte es noch einmal zu einer großen Flüchtlingsbewegung kommen. Und der Furcht vor allem im Süden, von den anderen Mitgliedsländern im Stich gelassen zu werden, wenn man, wie es eigentlich vorgeschrieben ist, jeden einzelnen Flüchtling bei seiner Ankunft in Griechenland oder Italien registriert hätte.
Seehofer hält diese Furcht für nachvollziehbar. Deshalb ist es in seinen Augen bei der Umsetzung des Asylkompromisses unverzichtbar, diejenigen Länder, in denen Prüfzentren an der EU-Außengrenze entstehen sollen, nicht nur mit Geld, sondern auch mit Personal zu unterstützen. Nach Seehofers Vorstellung sind etwa zehn solcher Hotspots notwendig. „Die müssen einheitlichen Standards entsprechen“. Zugleich sei überall eine internationale Besetzung in diesen Zentren notwendig. Für Seehofer heißt das: Es müssen dort auch deutsche Juristen eingesetzt werden. „Es muss rechtsstaatlich einwandfrei sein.“
Während Seehofer diese Kernidee begrüßt, schlagen die Kritiker des EU-Kompromisses Alarm. Aus ihrer Sicht verschlechtert sich die Lage für die geflüchteten Menschen mit dem jetzt Beschlossenen dramatisch. Besonders heftig wird kritisiert, dass es nicht gelungen ist, Familien mit Kindern von der Unterbringung in streng kontrollierten Lagern auszunehmen. Aus Sicht Seehofers verschweigen die Kritiker allerdings, dass eine Ablehnung der jetzt ausgehandelten Vereinbarung bedeuten würde, dass alles so weitergehen würde wie bisher – mit dem griechischen Lager Moria als Sinnbild für das ganze Elend der europäischen Flüchtlingspolitik. Faeser hat dem seither entgegengehalten, dass „das, was jetzt geschieht, doch der schlimmste aller Zustände ist“. Da denke auch niemand an die Kinder, so Innenministerin vor wenigen Tagen in der Talkshow von Sandra Maischberger. Faesers Hoffnung: So etwas wie Moria werde es künftig nicht mehr geben. Stattdessen werde mit der neuen Regelung vorgeschrieben, wie solche Lager auszusehen hätten.
Seehofer schlägt in die gleiche Kerbe. „Da muss man humane Lösungen schaffen“, sagt er und fügt hinzu: „Ich möchte nicht Guantanamo in diesen Lagern“. Die EU müsse durch „vernünftige Unterbringungslösungen“ dafür sorgen, um zu verhindern, dass die Menschen von dort auf eigene Faust weiter flüchten. Ob das gelingt, wird sich zeigen. Für Seehofer sind Vorprüfungen an den Außengrenzen „die sauberste Lösung“, um bei denjenigen frühzeitig Klarheit zu schaffen, die so gut wie keine Aussichten hätten, als Asylbewerber anerkannt zu werden. „Der Ansatz ist total richtig“, sagt er.