Man muss den Osten mit der Lupe suchen. Auf den 168 Seiten Text, die die Verhandler von Union und SPD in den 16 AGs bisher formuliert haben, sind nur wenige Positionen zu finden, die sich mit der spezifischen Situation in Ostdeutschland befassen: ein Bekenntnis zum Ausbau der Verkehrsverbindungen nach Polen und Tschechien oder zum Ausbau des Wasserstoffkernnetzes „auch im Süden und Osten“. Der Rest ist im Wesentlichen eine Fortschreibung bestehender Vereinbarungen oder das unbestimmte Versprechen, hier nicht zu sehr zu kürzen.
Die Ampel hatte vor dreieinhalb Jahren versprochen, Bundes- und Forschungseinrichtungen bevorzugt im Osten anzusiedeln sowie die Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen zu verbessern. Solche Ankündigungen gibt es seitens der künftigen Koalition bisher nicht. Vielleicht folgt das der Erkenntnis, dass hier nicht mehr viel zu holen ist. Der Ostbeauftragte der scheidenden Regierung hatte die Unterrepräsentation der Ostdeutschen in Regierungsämtern und Bundesverwaltung auch erst 2023 bemängelt, nachdem bereits alle Posten lange verteilt waren.
Überraschend ist die Nicht-Betonung des Ostens und seiner Rufe nach Besserstellung allerdings vor dem Hintergrund des Ergebnisses der Bundestagswahl. Die SPD verlor in den ostdeutschen Ländern gegenüber 2021 gut 13 Prozentpunkte. Die CDU gewann nicht mal anderthalb Punkte hinzu. Die künftigen Koalitionspartner erzielten in Ostdeutschland das schlechteste beziehungsweise das zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Hätte ganz Deutschland im Februar so gewählt wie die Wähler in den ostdeutschen Ländern und Ost-Berlin, kämen Union und SPD im Bundestag zusammen auf nicht mal ein Drittel der Sitze: 201 von 630.
Dass die Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Osten enorm ist, wurde jedem klar, der nach der Wahl die Karte der Zweitstimmensieger nach Wahlkreisen betrachtete. Der Osten grenzt sich AfD-blau in der Form der DDR vom überwiegend schwarzen Westen ab. Der Osten hatte immer schon ein eigenes Wahlverhalten, aber nicht in dem jetzigen Ausmaß. 2021 war Deutschland auch „geteilt“ – aber in einen roten Norden und einen schwarzen Süden (und ein überwiegend blaues Sachsen).
Union, SPD und Grüne würden in einem rein „westdeutschen Bundestag“ über mehr als 70 Prozent der Sitze verfügen. In einem „ostdeutschen Bundestag“ hätte „Kenia“ nicht mal 40 Prozent. Dass der alte Bundestag zur Änderung der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben noch einmal zusammentreten musste, weil im neuen die Zweidrittel-Mehrheit dafür gefehlt hätte, ist wesentlich auf das Wahlergebnis im Osten zurückzuführen. Dort haben die Wähler mehrheitlich Parteien gewählt, die eine weitere Unterstützung der Ukraine ablehnen. Man könnte zugespitzt sagen: Union, SPD und Grüne haben das ostdeutsche Votum auf besondere Weise gewürdigt – indem sie es ignorierten. Das taten sie übrigens am 18. März – dem 35. Jahrestag der ersten freien Wahlen in der DDR.