Analyse
Erscheinungsdatum: 23. April 2023

FDP-Mann Gerhart Baum: „Technologieoffenheit ja, aber doch nicht um jeden Preis.“

Gerhart Baum
90 und kein bisschen leise? So kann man das wohl sagen bei Gerhart Baum, dem früheren Bundesinnenminister und Tausendsassa der Liberalität. Im Interview fordert er eine raumgreifendere Definition von modernem Liberalismus, plädiert für eine Aufarbeitung von Niederlagen und zeigt seine große Sympathie für ein paar junge Liberale.

Was ist Ihr erster Gedanke nach diesem Parteitag?

Es gab gute liberale Impulse, Wortbeiträge, Beschlüsse. Eine gute, hoffnungsvolle Stimmung. Vor allem hat Christian Lindner sich klar zur Ampel bekannt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass die Rolle der FDP in der „Zeitenwende“ noch stärker akzentuiert worden wäre. Die notwendige Aufarbeitung der Wahlniederlagen unterblieb weitgehend, also die Beantwortung der Fragen: „Was haben wir falsch gemacht, was müssen wir besser machen?“ Die Thematik war eben sehr konzentriert auf die Rolle der FDP in der Ampel. Also auf Wirtschafts- und Finanzpolitik. Aber die FDP ist noch nicht über den Berg. Im Bundesrat, der ja nicht unwichtig ist, hat sie kein Gewicht mehr.

Was hat Ihnen am meisten gefehlt?

Der Blick auf die Rolle des Liberalismus auf anderen Politikfeldern angesichts des Epochenbruchs. Rechtsstaat, Europa, neue geo-ökonomische, geopolitische, geostrategische Veränderungen der Welt. Dass Frau Strack-Zimmermann für Europa nominiert wurde, ist ein deutliches Zeichen, dass Europa für die FDP wichtiger wird. Trotzdem: es muss deutlicher werden, warum es überhaupt eine liberale Partei gibt, die nicht nur punktuell für die Freiheit kämpft, sondern eine Freiheitsbewegung mit Tradition ist. Und zwar wie keine andere Partei. Dazu hätte ich gern mehr gehört: eine Ortsbestimmung der FDP in einer sich fundamental verändernden Welt. Dazu gehört auch die Frage: Wie muss sich auch die FDP verändern?

Für den Parteichef ist die Wiederwahl ganz okay gelaufen. Die Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen zuletzt waren miserabel. Wie passt das zusammen?

Es gibt ein Harmoniebedürfnis bei der FDP, das mir manchmal zu weit geht. So hätte ich mir eine Gegenkandidatur zu Kubicki gewünscht, zugunsten der Jugend. Er ist für mich nicht Ausdruck der Zukunft der FDP. Das ist für mich Johannes Vogel, der sich immer stärker profiliert hat, mit liberalen Zukunftsperspektiven. Es sind in der Fraktion Leute wie Konstantin Kuhle, Jens Teutrine, Gyde Jensen und die ganz jungen bei den Jungliberalen mit ihrer Vorsitzenden Franziska Brandmann. Sie sind es, die mir Hoffnung machen.

Wie erklären Sie sich die schlechten Resultate bei den letzten Landtagswahlen, nicht zuletzt auch in Berlin?

Die Wahlen sind schlecht gelaufen, weil Fehler gemacht worden sind, vor allem im Bund. Das begann schon mit Covid. Bis heute hat die FDP deshalb ein Problem mit älteren Wählern. Hinzukommt: Die FDP vermittelte oft den Eindruck, sie befinde sich mit den anderen beiden Parteien in einer Zwangsehe und könne sich kaum durchsetzen. Sie verhindere mehr, als dass sie gestalte. Ja, sie hat auch Fehler gemacht, aber auch gestaltet. Sie hat jetzt begonnen, besser zu kommunizieren, vor allem ihr Ziel, die Gesellschaft zu modernisieren, macht sie jetzt deutlicher. Der Erfolg der FDP ist mit dem der Ampel unlösbar verknüpft. Das hat die Führung erkannt; das ist auch der Wählerwille. Es wird keine Neuwahlen geben.

FDP und Grüne starteten mit einem Selfie in diese Koalition. Mittlerweile aber hat man das Gefühl, dass die beiden Parteien nicht mehr viel verbindet. Wie soll das noch überzeugen? Wie soll daraus noch Gutes erwachsen?

Beide Parteien haben eine ganze Reihe gemeinsamer Ziele. Sie streiten über den Weg dahin.

Christian Lindner und Robert Habeck sind grundverschiedene Politikertypen. Was kann Lindner besser – und wo ist für Sie Habeck überzeugender?

Beide sind herausragende politische Talente. Lindners Politik prägt rationale Intellektualität, mit der er zu überzeugen versucht. Er ist stets fertig im Prozess des Nachdenkens. Habeck denkt oft öffentlich nach. Er erreicht die Menschen mit mehr Emphase.

In der Öffentlichkeit hat sich beim größten Thema der Gegenwart und Zukunft, der Klimapolitik, ein Bild festgesetzt: Die Grünen ziehen und die FDP bremst. Nutzt oder schadet das der Partei?

In der Klimapolitik ist tatsächlich dieses öffentliche Bild entstanden. Die FDP hat manchmal gebremst, wo es nicht nötig war. Oft aber war es nötig, wirtschaftliche Vernunft ins Spiel zu bringen. „Ökologische Marktwirtschaft“ – das war früher ein FDP-Markenzeichen und wurde zu lange vergessen. Die drei Ampel-Parteien bilden drei verschiedene Tendenzen in unserer Gesellschaft ab: Soziales, Ökologisches und das Leitmotiv „Freiheit“. Sie stoßen aufeinander, aber sie müssen sich zusammenraufen. Ich würde mir nur wünschen: bitte nicht mehr so oft auf offener Bühne. Warum müssen die Bürger mit unausgegorenen Vorschlägen in Unruhe versetzt werden, bevor der Kanzler das Kind aus dem Brunnen rettet?

Das Wort Technologieoffenheit ist zu einem Glücksbegriff für die FDP geworden. Ist das nicht ein gefährliches Glück? Bislang wird es nicht als Unterstützung, sondern Abwehr einer klugen Klimapolitik wahrgenommen.

Technologieoffenheit ja, aber doch nicht um jeden Preis. „Technologiefolgeneinschätzung“, so nannten wir das früher, muss damit verbunden werden. Ein Beispiel: Die Digitalisierung hat der Menschheit einen enormen Entwicklungsschub gebracht. Es ist eine Revolution, aber auch eine mit erheblichen negativen Folgen. Unter anderem für die Privatheit, also für Menschenwürde. Ich hatte der FDP vorgeschlagen, einen Kongress mit dem Thema zu veranstalten: Wo gefährdet Digitalisierung die Freiheit? Durchaus auch mit Blick auf unterlassene Digitalisierung. Auch die Wirkungen der künstlichen Intelligenz sind alarmierend für die Individuen und die Gesellschaft. Lindner hat sich diesem Freiheitsthema in seiner Rede leider nicht gewidmet.

Was läuft falsch, wenn ein Begriff wie Technologieoffenheit so missverständlich wirkt?

Ich erwarte etwas mehr Nüchternheit bei diesem Thema. Bei aller Begeisterung für das Prinzip darf der Blick auf das Machbare nicht verloren gehen. Ganz generell muss jeder Fortschritt an ethischen Maßstäben gemessen werden.Zum Beispiel darf der Kapitalismus nicht von Gerechtigkeit abgekoppelt werden.

Wer die FDP schon länger kennt, hat das Gefühl, diese Partei habe zwei Wählerklientel, nicht eine. Die einen mit großer, fast zorniger Distanz zu Berlin, vor allem in der Unternehmerschaft; die anderen mit der Erwartung, dass die FDP vernünftig, liberal, weltoffen regiert. Stimmt der Eindruck?

Es gab schon immer unterschiedliche Wählerklientel der FDP. Otto Graf Lambsdorff hat andere angesprochen als ich. Aber wir hatten einen gemeinsamen Grundkonsens. Im Grunde muss man eine Richtungsentscheidung treffen. Mein dringender Appell ist: Die FDP muss viel mehr Wähler aus dem neuen Mittelstand erreichen, also die vorwärtsgewandten, freiheitsbewussten, urbanen Wähler, die mir auf der Straße sagen: Wir sind eigentlich liberal, aber ihr seid es nicht mehr so konsequent wie früher. Das Wahlergebnis bei der Kommunalwahl in Köln: ca. 30 Prozent Grüne, ca.6 Prozent FDP. Das ist doch kein Naturgesetz, zumal die Zweifel an den Grünen wachsen. Ein Teil der FDP neigt dazu, einseitig der Union Stimmen abzujagen, ohne zu realisieren, was uns von den Konservativen trennt. Stammwähler müssen auf Dauer gewonnen werden.

Das Problem für die FDP ist, dass diese beiden Flügel die Partei nur dann gleichzeitig wählen, wenn die Partei in der Opposition ist. 2009 riesiger Erfolg – in der Regierung Absturz. 2021 ziemlich gutes Ergebnis, inzwischen liegt sie in Umfragen nur noch bei der Hälfte. Wie kommt man da raus?

Denen, die die FDP in der Ampel nicht unterstützen, muss man sagen: Wollt lhr denn eine Koalition ohne FDP? Glaubt ihr denn, die Union würde den Grünen keine Zugeständnisse machen müssen?

Was tun?

Man muss ein liberales Freiheitsprofil mit Leben erfüllen. Eines, das breiter angelegt ist, unabhängig von jeder Koalition. Und auch intellektuell attraktiv.

Das neue Wahlrecht der Ampel sorgt für viel Aufregung – und die CSU reibt sich die Hände, weil sie dagegen bislang sehr erfolgreich mobilisiert. War das Wahlrecht ein Fehler?

Ich habe das verfassungsrechtlich nicht geprüft. Die Union hat jahrelang die Reform verhindert. Jetzt muss eine Befriedung erfolgen – durch Karlsruhe. Deutlich geworden ist, dass das politische Gewicht der CSU in Berlin viel zu stark war.

Die FDP leidet nach wie vor darunter, dass sie nicht viele Frauen für die politische Arbeit gewinnen kann. Wer ist Ihre persönliche Hoffnungsträgerin in der Partei?

Es gibt eine ganze Reihe, darunter Franziska Brandmann. Leider gehen die Frauen immer noch – seit Jahrzehnten – davon aus, dass irgendwann die Gunst der Männer sie stärken würde. Das ist eine vergebliche Hoffnung. An der Quote geht nichts vorbei. Aber auch dann muss Qualität zählen und nicht nur das Geschlecht.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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