In der vergangenen Woche jährte sich zum vierten Mal die Festnahme von Julian Assange, der bis 2019 rund sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London verbracht hatte. Abgeordnete aus verschiedenen Ländern setzen sich seitdem für den Wikileaks-Gründer ein, die deutsche Ampelkoalition hält sich bisher zurück. Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF), der kürzlich ein geplanter Besuch im Gefängnis verwehrt wurde, wirft ihr deshalb Doppelmoral vor. „Die Bundesregierung macht sich auf dem internationalen Parkett angreifbar, wenn sie Länder wie Russland oder die Türkei scharf kritisiert und andererseits zu Menschenrechtsverletzungen in verbündeten Staaten wie Großbritannien oder den USA schweigt“, sagt Geschäftsführer Christian Mihr.
Die NGO ruft zusammen mit anderen Menschenrechts- und Medienorganisationen schon länger zur Freilassung des Australiers auf, dem in den USA fast 200 Jahre Haft wegen angeblicher Spionage drohen. Dem heute 51-Jährigen, den die zivilgesellschaftliche Bewegung „Free Assange" mit Mahnwachen und anderen Aktionen unterstützt, wurden in den vergangenen Jahren mehrere Preise zuerkannt, etwa der Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik.
Kritisch sieht RSF auch die Rolle deutscher Medien, die früher zum Teil mit Wikileaks zusammenarbeiteten und von den Enthüllungen der Plattform profitierten. Im November hatten die Chefredakteure und Herausgeber großer internationaler Häuser, darunter der Spiegel, die US-Regierung in einem offenen Brief dazu aufgerufen, die Verfolgung von Assange wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente einzustellen. Aus Sicht von Mihr war das „eine überfällige Solidaritätsbekundung und somit ein Schritt in die richtige Richtung.“
Zu viele in der Branche hätten immer noch nicht verstanden, worum es geht – „einen Präzedenzfall, der Auswirkungen für die Arbeit von Journalisten und Journalistinnen weltweit haben kann, auch in Deutschland“. Mit Blick auf den am Freitag unter neuem Motto stattfindenden Bundespresseball begrüßt er den verstärkten Fokus auf Pressefreiheit: „Wir würden uns aber freuen, wenn alle, die dort zusammenkommen – seien es Medienschaffende oder Politiker und Politikerinnen – sich bewusst wären, dass es auch beim Fall Julian Assange um ganz grundsätzliche Fragen der Pressefreiheit geht.“
Der Vorstand der Bundespressekonferenz (BPK), die den Ball ausrichtet, teilt mit, die Entscheidung für den Schwerpunkt Iran in diesem Jahr sei bereits 2022 gefallen: „Diese Festlegung bedeutet nicht, dass der Vorstand der Bundespressekonferenz die Verteidigung der Pressefreiheit in anderen Regionen der Welt für weniger wichtig erachtet.“ Zweck des Vereins seit laut Satzung die Organisation von Pressekonferenzen. Der Verein verstehe sich „aber in der Regel nicht als NGO, die sich darüber hinaus zu Einzelfällen äußert.“ Anfang 2022 hatten die großen deutschen Medienorganisationen DJV, dju, RSF und Netzwerk Recherche zusammen mit Organisationen aus der Schweiz und Österreich auf einer Solidaritätspressekonferenz die Freilassung von Assange gefordert. (Der Autor dieses Textes initiierte die Veranstaltung, Anm. d. Red.)
Das Auswärtige Amt teilt auf Anfrage mit, Annalena Baerbock habe sich seit Amtsantritt hinter den Kulissen mit ihren Amtskollegen aus Großbritannien und den USA zum Thema ausgetauscht. Ihre Rechtsauffassung bleibe eine andere als in den beiden Ländern : Da Assange nicht selbst Geheimnisträger sei, sondern Informationen nur zugereicht bekommen habe, könne er keinen Geheimnisverrat begangen haben. „Aber da sind die Wirkungsmöglichkeiten zwischen demokratischen Rechtsstaaten begrenzt“, heißt es aus dem AA. Die Menschenrechtsbeauftragte Luise Amtsberg wollte sich aktuell nicht zu Assange äußern. Sie hatte im Mai eine Rede beim Human Rights Watch Film Festival in Berlin gehalten, das mit einem Dokumentarfilm über den Kampf von Assanges Familie für seine Freilassung eröffnet wurde.
Das AA hatte sich zuletzt im Januar offiziell zum Fall geäußert, als es in der Bundespressekonferenz Baerbocks Äußerungen von Juni 2022 wiederholte, wonach es „Diskrepanzen [gibt] zwischen unserem Rechtsverständnis und dem Rechtsverständnis der USA, was die Bedeutung von Pressefreiheit in diesem konkreten Fall angeht“. Die Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen findet es „enttäuschend“, dass sich Mitglieder der Regierung in dem Fall bedeckt halten. Sie hatte Assange 2012 als erste Parlamentarierin überhaupt in der ecuadorianischen Botschaft in London besucht und zusammen mit anderen MdBs 2020 eine fraktionsübergreifende Arbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen. Dabei sind etwa Ulrich Lechte (FDP), Corinna Rüffer (Grüne) und Frank Schwabe (SPD), Beauftragter der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit.
Dağdelen sagt: „Es geht um einen Menschen, der mitten in Europa seit über zehn Jahren seiner Freiheit beraubt wird und seit vier Jahren, 1470 langen Tagen, in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt, weil er US-Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat.“ Sie verweist darauf, dass vor der Bundestagswahl mehrere Kabinettsmitglieder noch die Freilassung von Assange gefordert hatten, unter anderem in einem vom Journalisten Günter Wallraff initiierten Appell. Dazu gehörten neben Claudia Roth die Minister Habeck, Özdemir und Lauterbach – sowie Annalena Baerbock.
Im Juli 2022 konnte die Arbeitsgemeinschaft einen Erfolg erzielen: Der Bundestag nahm mit der Zustimmung aller Fraktionen außer der Union eine Petition an, die forderte, „die psychologische Folter des Journalisten Julian Assange und den damit verbundenen Angriff auf die Pressefreiheit in Deutschland und Europa zu verurteilen“. Zuvor hatte auch der damalige UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, der ein Buch dazu veröffentlicht hat und von einem der „schlimmsten Justizskandale aller Zeiten“ spricht, die Bundesregierung kritisiert. Diese gab in der Vergangenheit immer wieder an, Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des britischen Verfahrens zu haben. Den MdBs, die sich für den Wikileaks-Gründer einsetzen, reicht das nicht: Am Freitag findet ein weiteres Treffen statt, zu dem auch die Anwältin Stella Assange, Ehefrau des Wikileaks-Gründers, erwartet wird. Ein Interview mit ihr lesen Sie hier.