Analyse
Erscheinungsdatum: 20. April 2023

Stella Assange: „Deutschland sollte seinen Einfluss nutzen“

05.04.2023, Großbritannien, London: Christophe Deloire (r), Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen, Rebecca Vincent l), Direktorin für Operationen und Kampagnen, und Stella Assange (M), Ehefrau von Julian Assange, spricht mit Journalisten vor dem Belmarsh-Gefängnis, wo sie den Wikileaks-Gründer besuchen. Der Besuch findet eine Woche vor dem vierten Jahrestag seiner Inhaftierung statt. Foto: Stefan Rousseau/PA Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Stella Assange ist Anwältin und hat zwei Kinder mit dem Wikileaks-Gründer, der seit vier Jahren in Großbritannien im Gefängnis sitzt und in die USA ausgeliefert werden soll. Zusammen mit Julian Assanges Familie setzt sie sich weltweit für seine Freilassung ein, auch bei der Bundesregierung.

An English version of this interview can be found here

Wie beurteilen Sie die derzeitige Rolle der deutschen Regierung und ihren Umgang mit dem Fall?

Deutschland spielt eine besondere Rolle, da hier schon 2009 geheime US-Aktionen gegen Wikileaks stattgefunden haben. Deutsche Staatsbürger und deutsche Medien waren an den Veröffentlichungen beteiligt, und natürlich ist der Fall ein Verstoß gegen die europäische Souveränität. Deutschland sollte eine moralische Führungsrolle einnehmen und seinen Einfluss als mächtigster Staat auf dem europäischen Kontinent nutzen, um das Offensichtliche auszusprechen: dass Journalisten auf der ganzen Welt weder inhaftiert noch eingeschüchtert werden sollten.

Was hören Sie aus Regierungskreisen über interne Beratungen mit anderen Ländern oder sogar Maßnahmen hinter den Kulissen?

Unter der vorherigen Bundesregierung herrschte insgeheim eine gewisse Besorgnis über die Tragweite dieses Falles. Deutsche Diplomaten beobachteten das Auslieferungsverfahren, wenn auch im Hintergrund. Ich denke, es ist wichtig, mit den deutschen Entscheidungsträgern in Kontakt zu treten, um sie über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Die Biden-Regierung ist in diesem Fall zutiefst gespalten und der Wille, den Fall weiterzuverfolgen, ist deutlich gesunken. Er wird als eine Altlast von Ex-Präsident Trump und Ex-Außenminister Mike Pompeo angesehen. Die australische Regierung erklärt derweil das Richtige, nämlich, dass sie eine Lösung in dem Fall anstrebt und Julian freigelassen werden sollte. Eine eindeutige Positionierung der deutschen Regierung auf der richtigen Seite der Geschichte käme zur rechten Zeit.

Welche Unterstützung erfahren Sie und Ihr Mann von deutschen Politikern und der Zivilgesellschaft?

In Deutschland gab es schon immer Unterstützung von allen Seiten der Politik. In den letzten Jahren ist sie noch stärker geworden. Meiner Meinung nach ist Deutschland neben Italien die kritischste und am besten informierte Gesellschaft, wenn es um diesen Fall geht.

Der Bundespresseball findet am Freitag statt und will künftig dauerhaft unter dem Motto „Für die Pressefreiheit“ firmieren. Was halten Sie davon?

Generell habe ich Bedenken gegenüber glamourösen Veranstaltungen, bei denen Journalisten mit den Mächtigen verkehren, die sie eigentlich kontrollieren sollen. Es ist leicht, Veranstaltungen zur Pressefreiheit in anderen Ländern zu unterstützen, deren Regierungen wir kritisch gegenüberstehen; die zugrunde liegende geopolitische Dynamik ist offensichtlich. Aber es fällt mir schwer, mich des Eindrucks zu erwehren, dass vieles von dem, was geschieht, nicht mehr ist als selektive Empörung und virtue signalling, das Zurschaustellen moralischer Werte. Julian befindet sich seit vier Jahren ohne Verurteilung in England in Haft und ihm drohen 175 Jahre in den USA. Wenn es beim Ball im nächsten Jahr um die Pressefreiheit in den USA und im Vereinigten Königreich oder um die Verfolgung von Wikileaks geht, sehe ich das vielleicht anders. Vielleicht bin ich da zu zynisch – ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.

Die australische Regierung unter Premierminister Albanese will sich gegenüber Großbritannien und den USA verstärkt für die Freilassung von Julian Assange einsetzen. Was erhoffen Sie sich davon?

Es ist Julians beste Chance, in Freiheit zu kommen. Das Ganze war schon immer ein politischer Fall und muss von den politischen Verantwortlichen gelöst werden.

Annalena Baerbock hat sich bisher eher zurückgehalten, im Fall des in Russland inhaftierten US-Reporters Evan Gershkovich fand sie dagegen deutliche Worte. Wie blicken Sie auf die deutsche Außenministerin?

Ich denke, Deutschland muss in der Lage sein, Stärke zu zeigen. Ich habe schon lange gewarnt, dass die USA mit der Anklage gegen Julian normalisiert, dass politischer Straftatbestände wie Spionagegesetze gegen Journalisten verwendet werden. Und jetzt hat Russland zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg die gleiche Methode gegen Gershkovich angewandt. Das ist kein Zufall. Ich denke, wenn Julian nicht strafrechtlich verfolgt worden wäre, wäre Gershkovich wahrscheinlich ausgewiesen worden, anstatt dass ihm 20 Jahre Haft nach dem Spionagegesetz drohen. Früher haben die USA den Begriff der Pressefreiheit in die Welt getragen. Nun exportieren sie die Unterdrückung der Presse, indem sie diesen Präzedenzfall geschaffen haben, der einen weltweiten Niedergang ihres Schutzes eingeleitet hat.

Was erwarten Sie von Baerbock?

Dass sie angesichts dieses Missstandes schweigt, ist ein Zeichen der Schwäche. Das gilt besonders, nachdem sie öffentlich Julians Freilassung gefordert hat, als sie noch in der Opposition war. Und das gilt vor allem auch angesichts der Tatsache, dass die UN, der Europarat und jede bedeutende Menschenrechtsorganisation ebenfalls dafür sind. Die USA müssen von ihren Verbündeten zu verstehen bekommen, dass die Inhaftierung von Julian nicht hingenommen werden kann und dass sie den Westen schwächt. Die Menschenrechte sind ein Bereich, in dem Deutschland seine Werte nicht aufs Spiel setzen sollte.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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