Analyse
Erscheinungsdatum: 12. November 2023

EU-Sozialpolitik: Wie Hubertus Heil Einfluss nehmen will

Die EU hat in der Sozialpolitik bisher kaum Kompetenzen. Das Bundesarbeitsministerium möchte das ändern – und versucht, die Zusammenarbeit über bilaterale Abkommen etwa mit Frankreich und den Niederlanden voranzutreiben.

Anfang November waren sie alle in Berlin: Vertreterinnen und Vertreter von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, Abgeordnete verschiedener Parteien aus dem Europaparlament – und der zuständige EU-Kommissar Nicolas Schmit. Der Grund: Das Bundesarbeitsministerium hatte zur Konferenz „Soziales Europa“ geladen. Im Zentrum stand die Frage, welche Schwerpunkte die EU-Kommission nach der Europawahl 2024 setzen sollte. Der deutsche Minister hat dazu eine klare Meinung: „Wettbewerbsfähigkeit wird nicht durch bloßen Regulierungsabbau besser, und Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft dürfen in einer verflochtenen Wirtschaft nicht an Grenzen enden “, sagte Hubertus Heil zu Table.Media.

Entsprechend lauten auch seine Forderungen an die nächste EU-Kommission. An der Seite seiner Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich, Belgien, Bulgarien und den Niederlanden empfahl Heil, die künftige Kommission solle dafür sorgen, dass Arbeitskräfte in ihrem Unternehmen mehr mitbestimmen dürfen und dass Beschäftigte grenzüberschreitend faire Bedingungen vorfinden. Seine Hoffnung: Damit könnte die EU dazu beitragen, dass die Bevölkerung wieder optimistischer auf die Zukunft schaut – trotz der Anstrengungen, die sich durch den ökologischen Umbau der Wirtschaft ergeben werden. Was in Europa derzeit am meisten fehle, sei genau das: die „Zuversicht, dass wir eine gute Zukunft haben“, sagte Heil. Viele Menschen würden der EU und ihren Mitgliedsstaaten nicht mehr zutrauen, die „großen und kleinen Probleme des Alltags zu lösen“.

Das will Heil ändern. Unter anderem möchte er unter dem Stichwort „faire Mobilität“ dafür sorgen, dass ausländische Beschäftigte besser über ihre Rechte aufgeklärt werden. Das betrifft beispielsweise Lkw-Fahrer, die bei einem Unternehmen beschäftigt sind, das weder Sitz noch Niederlassung in Deutschland hat. Im Juni verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das auf EU-Richtlinien zurückgeht und Verbesserungen für sie bringen soll : Es stellt klar, dass der deutsche Mindestlohn von bald 12,41 Euro gilt, wenn sie innerhalb der Bundesrepublik arbeiten.

Viele Betroffene wissen das nicht oder werden von ihrem Arbeitgeber nicht darüber informiert. Für Aufsehen sorgte in dem Zusammenhang zuletzt ein monatelanger Streik von Fahrern auf der Raststätte Gräfenhausen in Hessen. Eine polnische Spedition hatte ihnen ihren Lohn nicht ausbezahlt und stattdessen einen Schlägertrupp geschickt. Unterstützt wurden die Fahrer vom DGB, der über sein Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ in bundesweit 13 Beratungsstellen Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa in ihrer Muttersprache berät.

Anfang Dezember wird die Arbeitskräftemobilität wieder Thema einer Konferenz in Berlin sein. Zu Gast sind hochrangige Vertreter aus Bulgarien und Rumänien und dazu auch aus der Republik Moldau, die sich um einen Beitritt in die EU bewirbt. Ein Punkt auf der Tagesordnung: der Kampf gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung.

Arbeitnehmerrechte werden auch die Teilnehmer eines EU-Sozialgipfels im Januar in Belgien beschäftigen. Das Land übernimmt im ersten Halbjahr 2024 die Ratspräsidentschaft. Laut Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sollen dort der Fach- und Arbeitskräftemangel sowie der Einsatz künstlicher Intelligenz im Mittelpunkt stehen. Im Vorfeld werden Berlin und Paris einen deutsch-französischen Sozialgipfel abhalten, auf dem sich beide Regierungen vorab zu den von der EU genannten Themen positionieren wollen. Details dazu gibt es bislang nicht. Beide Seiten befinden sich hierzu noch in der Abstimmung, so das BMAS.

Auch wenn Deutschland in nächster Zeit nicht die Ratspräsidentschaft übernehmen wird, will es sich intensiv einbringen: ob bei den bis Ende 2023 amtierenden Spaniern oder bei den Belgiern im kommenden Halbjahr, die laut Ministerium „beim sozialen Europa viel Ehrgeiz“ zeigen. Außerdem gibt es bereits bilaterale Vereinbarungen mit mehreren Ländern, darunter die Niederlande und Frankreich.

Im Juli unterzeichneten Annalena Baerbock und ihre französische Amtskollegin Catherine Colonna einen vom BMAS mit ausgehandelten Vertrag zur grenzüberschreitenden Ausbildung. Für Französinnen und Franzosen soll es einen staatlichen Zuschuss ihrer Regierung auch dann geben, wenn sie sich nicht in Frankreich, sondern in einem deutschen Betrieb ausbilden lassen. Zudem sollen im Grenzgebiet tätige Berater mit entsprechender Spezialisierung paritätisch von beiden Ländern finanziert werden – zuvor hatte das ausschließlich die Bundesagentur für Arbeit übernommen.

Berlin und Den Haag wiederum einigten sich im Rahmen der gemeinsamen Regierungskonsultationen Anfang 2023 darauf, die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung „prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen von Wanderarbeitnehmerinnen und -nehmern zu verstärken“. Mit dem niederländischen Ministerium für Arbeit und Soziales und der 2019 gegründeten Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) organisiert das BMAS im kommenden Jahr deshalb eine Veranstaltung zum Thema.

Dass es in der Grenzregion zwischen Deutschland und den Niederlanden Probleme gibt, zeigt das Beispiel der Fleischindustrie. Nachdem im Zuge der Corona-Pandemie unhaltbare Zustände in Schlachthöfen in Nordrhein-Westfalen bekannt wurden, verschärfte Deutschland 2020 seine Gesetze. Anfang 2023 berichtete dann der SWR, dass Menschen in der Industrie trotzdem weiter ausgebeutet werden – nur eben nicht mehr in NRW, sondern grenznah im Nachbarland. Für die Beschäftigten gilt also das deutsche Gesetz nicht; gleichzeitig wohnen sie in schlechten Behausungen auf der deutschen Seite, wodurch sie niederländischen Kontrollen entgehen.

Genau wegen solcher Missstände wurde die ELA als europäische Behörde gegründet. Das Problem: Sie hat keine eigenen Kontrolleure, sondern kann nur Kontrollen koordinieren. Ob dann auch tatsächlich welche durchgeführt werden, entscheiden die Mitgliedstaaten. Deshalb wollen Heil und andere Fachministerinnen und -minister aus der EU die Behörde stärken.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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