Der Appell des frisch gebackenen Juso-Vorsitzenden war eindringlich: „Olaf, falls dich in deiner Berliner Burg noch irgendetwas erreicht: Ändere deinen Kurs!“ Der Kanzler hatte sich die Reise zum Bundeskongress der Jungsozialisten nach Braunschweig am vergangenen Wochenende erspart. Aber die Botschaft von Philipp Türmer dürfte ihn dennoch erreicht haben. Auch der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert bekam sein Fett weg: „Deine Schonfrist ist vorbei, Kevin!“
Drei Tage später verabschiedete die Konferenz der 17 SPD-Fraktionsvorsitzenden von Bund und Ländern in Duisburg einen Beschluss, der sich dem Thema Zukunft, Transformation und Schulden widmete. Und klarstellte, dass die Schuldenbremse in ihrer bestehenden Form beseitigt gehört. „Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form ist für die Herausforderungen der Zukunft nicht geeignet“, heißt es dort in großer Klarheit. Und: An einer „grundlegenden Reform dieser Zukunftsbremse führt kein Weg vorbei“. Im Interesse des Wirtschaftsstandortes und des Wohlstandes dürften sich Union und FDP „der dringend notwendigen Debatte nicht länger verweigern“.
Auch Co-Parteichef Lars Klingbeil und Generalsekretär Kevin Kühnert waren nach Duisburg geeilt. Wie Fraktionschef Rolf Mützenich spüren sie die zunehmende Unruhe innerhalb der Partei. Einerseits die Herausforderungen mit einer neuen Sicherheitsphilosophie, der Klimakrise, der Energiefrage und der Transformation überhaupt. Andererseits toxische Themen wie die Schuldenbremse, der Ausschluss von Steuererhöhungen beim gleichzeitigen Beharren auf Subventionen, das zähe Ringen beim Industriestrompreis, das tiefgekühlte Klima innerhalb der Ampel, ein Kanzler, der moderiert statt planmäßig und zielstrebig in die Zukunft führt. Und schließlich die jüngsten Landtagswahlen und Umfragewerte: Seit Monaten begegnen ihnen auf allen sozialdemokratischen Ebenen die Klagen – und allen Koalitionsschwüren zum Trotz ohne Aussicht auf Abhilfe oder Besserung.
In kleinen Runden, in größeren Runden, mit und ohne Kanzler – immer wieder haben sie mehr Führung innerhalb der Koalition und eine andere Kommunikation angemahnt. Geändert hat sich wenig. Für sie, wie auch für Saskia Esken, war es immer ein Tanz auf dem Seil: Einerseits waren sie bemüht, loyal zum Kanzler und seiner Regierung zu bleiben. Andererseits registrierten sie, wie die Partei nach und nach abrückte, nach ihrem Kern suchte, gestalten möchte und raus wollte aus der Moderatorenrolle mit zwei Partnern, die sich – jeder auf seine Weise – schwertaten mit pragmatischen Lösungsansätzen.
Auch Stephan Weil, der niedersächsische Doyen unter den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten, blickt seit langem skeptisch-loyal auf die Ampel in Berlin. Nicht zuletzt auf deren Haushaltspolitik, deren Folgen durch das Gerichtsurteil jetzt auch Niedersachsen betreffen. Selbst ausgeprägtes politisches Unverständnis äußert er eher moderat. Das hört sich dann so an, dass er, wie am Dienstagabend bei Markus Lanz, freundlich nach einer „sinnvollen Ausgestaltung der Schuldenbremse“ ruft. Denn: „Wie es jetzt ist, ist es wenig praktikabel.“ Übersetzt soll das wohl heißen: Liebe Bundesregierung, verabschiede Dich endlich von diesem Dogma!
Noch deutlicher wurde er tags darauf in Hannover. Dass die Bundesregierung sich so hat von Karlsruhe hat überraschen lassen? „Es fällt mir nicht leicht, eine Erklärung dafür zu finden." Auch Niedersachen habe eine Reihe von Wasserstoffprojekten, die der Bund fördern wollte. Kommen die Zuschüsse noch? Unklar. Klar ist für Weil nur: „Wenn die Förderung nicht kommt, entsteht ein Scherbenhaufen." Das Vertrauen in den Standort Deutschland werde dann unweigerlich Schaden nehmen.
Und nun steht in zweieinhalb Wochen der SPD-Parteitag bevor, und es ist, bildlich gesprochen, in der Fraktion, in den Ländern, in den Kommunen so viel Druck im Kessel, dass er sich mutmaßlich irgendwo entladen wird. 895 Seiten ist das Antragsbuch stark, äußerer Ausdruck einer Partei im Zustand der gehobenen Nervosität.
Unter diesen Umständen war der Ausflug der Führungsleute aus dem Willy-Brandt-Haus nach Duisburg Ausdruck der Bemühungen, die Partei zumindest bis zum Parteitag einigermaßen zusammenzuhalten. Von einem „historischen Moment“ sprach Klingbeil in Duisburg: In 20 Jahren werde man rückblickend ein Urteil sprechen können, ob Deutschland zur Hoch-Zeit der Transformation noch Anschluss gefunden oder den Zug entscheidend verpasst habe. Andere erinnerten beispielhaft daran, wie sich große deutsche Unternehmen darunter Bertelsmann, Telekom oder Siemens, in den Nuller-Jahren aus der heraufziehenden Digitalisierung verabschiedet hätten und amerikanische und chinesische Firmen damals begannen, uneinholbar zu enteilen.
Auch in Duisburg waren sie sich einig: Es kann, darf und soll so nicht weiter gehen. Fehleinschätzungen wie nun beim vom Verfassungsgericht zerrupften Haushalt, und das ganze ohne Plan B; dazu handwerkliche Mängel wie beim Heizungsgesetz und anderen hastig zusammen geschriebenen Texten, wiederholte Rügen von Rechnungshof und Verfassungsgericht und ein massives gegenseitiges Misstrauen – die Mängelliste der Koalition ist lang. Natürlich, die Herausforderungen sind besondere. Aber an einen Kanzler, der für sich reklamiert, die Dinge stets „sorgfältig“ vorzubereiten oder vorab „sehr sorgfältig“ zu durchdenken, werden besondere Erwartungen gestellt. Er steht am Steuerrad, und dummerweise wird diese Sorgfalt an vielen Stellen nicht wirklich erkennbar.
Das ist der Grund, warum sich die Hinweise aus dem sozialdemokratischen Lager an den Kanzler häufen. Sie werden dringlicher, und sie werden präziser. „Das Maß ist voll“, hatte der baden-württembergische Landesvorsitzende Andreas Stoch vor zwei Wochen in seinem Blog notiert. „So kann es nicht weiter gehen“, hatte wiederholt auch Fraktionschef Rolf Mützenich intern hinterlegt.
Zwei Ärgernisse sind es ganz besonders, die den Genossen aufs Gemüt schlagen: Da ist zum einen die Attitüde des Kanzlers. Seine dürftige Kommunikation, die sich bisweilen auch als Arroganz vermittelt; sein häufig langes Schweigen, das schon in ein Aussitzen übergeht. Seine Gewohnheit, auch bei drängenden Problemen lange mit sich selbst zu Rate zu gehen, bevor er der Öffentlichkeit eine mögliche Lösung präsentiert.
Und es ist seine Haltung, schweigend der FDP und ihrem Finanzminister – und offenbar zustimmend – beim Sparen zuzuschauen. Anstatt in Anbetracht der aktuellen Herausforderungen den Konflikt mit dem Finanzminister einzugehen, die einmal vereinbarte Schuldenbremse offen infrage zu stellen und sie gründlich zu überarbeiten.
Nun haben die Haushälter des Bundestags die finale Abstimmung des Budgets 2024 auf die letzte Sitzungswoche 2023 verschoben. Bis dahin muss das Bundesfinanzministerium eine neue Vorlage erarbeiten, „Wir müssen es bis dahin irgendwie hinkriegen“, heißt es in führenden sozialdemokratischen Kreisen. Und wenn nicht? „Das Überlaufventil bei uns zischt – und wenn es mal zischt, kriegst du es nur schwer gestoppt.“