Sie haben sich das Regieren knapp zwei Jahre sehr ausführlich angesehen. Wird Deutschland aus Ihrer Sicht gut regiert?
Sie fangen mit der schwersten aller Fragen an. Ich verstehe, mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern.
Es ist die wichtigste Frage.
Deutschland hat zwei riesengroße Herausforderungen. Das eine ist der Krieg, das andere der Klimawandel. Was den Krieg betrifft, wird Deutschland alles in allem ordentlich regiert. Weil es die Bundesregierung schafft, die Ukraine zu unterstützen und Deutschland selber aus dem Krieg herauszuhalten.
Aber?
Deutschland wird nicht ausreichend gut regiert, wenn es um die andere große Herausforderung, den Klimawandel, geht. Dabei lähmt sich die Koalition selbst. Und ist nicht ehrgeizig genug, um die Klimaziele zu erreichen. Das kann kein Dauerzustand sein. Die wichtigsten Akteure haben 2021 im Wahlkampf davon gesprochen, dass der Klimawandel eine historische Herausforderung ist – die größte des Jahrhunderts.
Was bedeutet das?
Wenn man das ernst meint, muss die Industrienation Deutschland in einem schnelleren Tempo umgebaut werden. Die Koalition hat das versucht, vor allem mit dem Klimaschutzgesetz und dem Gebäudeenergiegesetz. Aber beide Gesetzesinitiativen wurden aus handwerklichen Mängeln und in der koalitionären Auseinandersetzung verwässert. Der Streit über das Heizungsgesetz war so erbittert, dass ich befürchte, dass die Regierung in der zweiten Hälfte der Legislatur nicht die Kraft aufbringen wird, eine ehrgeizigere Klimapolitik zu betreiben.
Die Ampel steht in Umfragen ziemlich schlecht da zur Halbzeit. Ist das bei allem, was diese Koalition in ihren ersten zwei Jahren tun musste, fair?
Darüber kann sich die Regierung nicht beklagen. Jede Regierung wird gemessen an den Resultaten ihrer Politik und an ihrem Erscheinungsbild. Und wenn das Erscheinungsbild desolat ist, und das war es über weite Strecken im Frühjahr dieses Jahres, dann darf man sich über die Umfragewerte nicht wundern. Es ist alles andere als erfreulich, weil die AfD davon massiv profitiert. Aber es ist ein Abbild des Fehlverhaltens der Ampel-Koalition in einem zentralen Politikfeld. Und es spiegelt das Erscheinungsbild der drei Koalitionspartner der letzten Monate wider.
Sie beschreiben ausführlich die Anstrengungen und Abwägungen in der Regierung. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der die Stimmungsmacher gegen das Abwägende und Kompromiss-Suchende polemisieren. Kann eine Ampel dagegen überhaupt bestehen?
Ich bin der Überzeugung: Ja. Das war auch meine Hoffnung zu Beginn der Ampel, weil sich da drei sehr unterschiedliche Parteien zusammengetan haben. Nicht weil sie mussten wie Union und SPD 2018, sondern weil sie wollten. Nein, es war keine Liebesheirat. Aber es war eine mit guten Vorsätzen. Dazu kommt: Eine Regierung, die aus drei Parteien besteht, kann in drei unterschiedliche Bevölkerungsschichten wirken. Die SPD mehr in den Arbeitnehmer-Teil und den gewerkschaftlich orientierten Teil der Bevölkerung; die Grünen mehr in den ökologisch bewusst lebenden Teil; und die FDP mehr in den Bereich der Unternehmer und des Mittelstands. Gute Voraussetzungen also für das Vorhaben, das Land klimaneutral umzubauen. Das kann nur funktionieren, wenn man in unterschiedliche Kreise, in die Breite der Gesellschaft wirkt.
Warum ist davon nichts übriggeblieben?
Das Potenzial bleibt. Aber die Ampel hat es bis jetzt nicht genutzt. Stattdessen hat sich in der Koalition aus politischem Besitzstandwahren und Kurzsichtigkeit im Laufe dieser knapp zwei Jahre eine negative Energie entfaltet. Das muss man der Koalition vorhalten.
Sie meinen: Die Koalition könnte, wenn Sie wollte?
Die Möglichkeiten wären da, um Ihre Frage zu beantworten. Ja.
Die AfD profitiert sehr von der Schwäche. Und das auch, weil sie jenseits jeder Sachdebatte eine Anti-Stimmung erzeugt. Wie hält man da dagegen?
Um große Herausforderungen zu meistern, braucht man als Regierung maximale Geschlossenheit. Das wissen alle und haben es trotzdem nicht hinbekommen. Sie haben nicht nur Unterschiede in der Dreier-Koalition benannt, sondern sie als scharfe Gegensätze demonstrativ herausgestellt. Das gibt der Opposition jede Menge Futter. Nichts ist giftiger in dieser Situation, als eine sich permanent streitende Regierung. Da darf man sich nicht wundern, wenn Populisten Zulauf bekommen. Die Koalition kann ihr Potential nur dann nutzen, wenn sie die großen Herausforderungen geschlossen angeht, gewissermaßen als nationale Aufgabe. Was nicht bedeutet, dass die Regierung nicht diskutieren, dass sie nicht auch streiten soll, aber aus dem Geist der Gemeinsamkeit heraus, der am Anfang da war.
Wie ist das entstanden? Wer trägt die Hauptverantwortung?
Vor allem die FDP, weil sie ums politische Überleben kämpft. Sie ist im Jahr 2022 aus zwei Landtagen gewählt worden, im Jahr 2023 aus dem Abgeordnetenhaus in Berlin. In Bayern steht sie aktuell unterhalb der Fünf-Prozent-Marke. Und nächstes Jahr kommen drei ostdeutsche Landtagswahlen, in denen es auch sehr eng wird. Es kann also sein, dass die FDP am Ende des kommenden Jahres in sechs bis sieben deutschen Landtagen nicht mehr vertreten sein wird. In so einer Situation geht einer Partei die finanzielle, personelle und ideelle Basis verloren. Deshalb hat die FDP allen Grund, ums politische Überleben zu fürchten. Die Konsequenz, die die Parteiführung in Berlin daraus zieht, ist, sich auf Kosten der beiden Koalitionspartner im Bund zu profilieren. Und das bedeutet, dass die FDP über weite Strecken wie eine Oppositionspartei in der Regierung agiert.
Alle Schuld der FDP?
Nein. Robert Habeck und sein Wirtschaftsministerium haben auch Fehler gemacht, Habeck selbst hat eingeräumt, dass er die Stimmung im Land Anfang dieses Jahres falsch eingeschätzt hat. Dazu kam die Affäre um seinen Staatssekretär Patrick Graichen. Die FDP aber hat nicht nur gesagt, dass das Heizungsgesetz Mängel habe und diese behoben werden sollten. Sie hat es mit einem aggressiven, harschen Ton verbunden. Von der Parteiführung vorgegeben, von den unteren Parteiebenen noch verstärkt. Ich erinnere an den Ausspruch eines FDP-Abgeordneten, das Gesetz sei eine „Atombombe für unser Land“. Um im Bild zu bleiben: ab da wurde es wirklich explosiv. Es war kein konstruktives Miteinander mehr, sondern ein ganz klar gegen den Koalitionspartner gerichtetes Gegeneinander.
Warum konnte dem niemand Einhalt gebieten?
Bis zum 28. Februar 2023 wäre das vielleicht noch gegangen. Das war der Tag, an dem die Bildzeitung wegen einer Indiskretion innerhalb der Bundesregierung Details des noch sehr unreifen Gesetzentwurfes zum Gebäudeenergiegesetz veröffentlicht hat. Ab da wirkten destruktive Kräfte innerhalb der Koalition. Die FDP hat diese Indiskretion vielleicht nicht verursacht, aber sehr stark für sich genutzt. Aus dem positiven Zustand der Regierung nach einem Winter, in dem die vorher befürchteten Horrorszenarien abgewendet worden waren, wurde innerhalb weniger Tage die größte Krise der Ampelregierung.
Die FDP verliert zum zweiten Mal nach 2009 binnen eines Jahres in einer Regierung rapide an Anhängerschaft. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die Parallele hat einen Charme und ich habe mir die Frage gestellt, ob es da eine Zwangsläufigkeit gibt. Es könnte ja einfach daran liegen, dass der Juniorpartner in einer Regierung - noch dazu in großen Krisen – nicht genug Luft zum Atmen bekommt. Guido Westerwelle bei Angela Merkel und jetzt Christian Lindner bei Olaf Scholz. Ich bin aber zu dem Schluss gekommen, dass das nicht passt. Die Grünen waren 2022 in einer sehr ähnlichen Lage, haben aber nach Kriegsausbruch mit einem demonstrativen Pragmatismus lange so gut wie keine Unterstützung verloren haben. Anders als die FDP, der das nicht gelungen ist.
Woran machen Sie das fest?
Nehmen Sie das Tempolimit. Die FDP hat es nicht mal in der großen Energiekrise geschafft, diese ihr so heilige Kuh aufzugeben. Während die Grünen mit großen Schmerzen einem Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken und dem Streckbetrieb der AKWs zustimmten. Sie haben viele Grundsätze über Bord geworfen.
Welche Verantwortung geben Sie dabei dem Kanzler, der sich lange weitgehend rausgehalten hat? War das clever?
Olaf Scholz legt sehr großen Wert auf Kompromissfähigkeit in der Politik. Für ihn, glaube ich, ist das das Wesen der Demokratie schlechthin. Mein Eindruck ist, dass er in diesem Frühjahr die Brisanz des Streits innerhalb der Koalition unterschätzt hat. Und er wollte kein Basta-Kanzler sein. Im Herbst letzten Jahres war er das erzwungenermaßen beim Streit über die Atomkraftwerke. Er wollte nicht gleich wieder auf den Tisch hauen. Ihm widerstrebt das, es widerspricht zutiefst seinem Politikverständnis.
Klingt ein bisschen nach: ohne Fehl und Tadel.
Nicht ganz. Dazu kam, dass er der FDP als dem Krisenpartner in der Koalition mehr Raum geben wollte. Raum zur Profilierung, damit sie bei der nächsten Wahl anders als die FDP unter Angela Merkel nicht wieder unter die fünf Prozent rutscht. Er hat sich mehr um die FDP gekümmert als um die Grünen, was die Grünen auf die Bäume getrieben hat. Er hat diesen Streit, der von der FDP vom Zaun gebrochen wurde, aus diesem Grund so lange laufen lassen. Insofern trägt er eine Mitverantwortung für das Erscheinungsbild der Koalition.
Welche Rolle spielt bei alledem der Journalismus?
Er steht in einer großen Verantwortung. Wenn man sich den Klimawandel über die letzten Jahrzehnte anschaut, dann muss man der Bundesregierung, die von Angela Merkel 16 Jahre geführt wurde, vorwerfen, dass sie die Warnungen etwa vom Weltklimarat nicht ernst genug genommen hat. Als Physikerin hat sie die gelesen. Das sagt sie selbst. Aber sie hat nicht konsequent gehandelt. Und wir Journalistinnen und Journalisten müssen uns dieselbe Frage stellen: Warum haben wir nicht ausreichend darauf hingewiesen?
Warum gibt es wenig Selbstkritik?
Es gibt sie, manchmal. Ich erinnere an die Finanzkrise 2008/2009. Da haben jene, die über das Börsengeschehen berichten, sich quasi entschuldigt dafür, dass sie zu wenig auf die toxische Parallelwelt hingewiesen haben, die sich in London, Manhattan und Frankfurt entwickelt hatten. Dann begannen dieselben Leute, in den Börsennachrichten auf diese Fehlentwicklungen hinzuweisen. Das war gut. Es kam ein bisschen spät, aber es kam. Dieselbe Frage muss man sich heute beim Thema Klimawandel stellen. Ich muss mich auch an die eigene Nase fassen.
Sie haben in Ihrem Buch daran erinnert, wie Robert Habeck im Sommer 2021 nach einem Besuch in der Ukraine dafür warb, dem Land Defensivwaffen zur Verfügung zu stellen – und von allen Seiten ausgelacht wurde. Nicht zuletzt auch von sehr vielen Journalisten. Bräuchte es mehr Demut im Journalismus?
Ja, er würde unserem Berufsstand guttun. Wir müssen aufpassen, dass wir keinen Herdenjournalismus betreiben und alle in eine Richtung laufen. Weniger urteilen, mehr erstmal recherchieren, hinhören, wenn jemand einen Vorschlag macht, der im ersten Moment vielleicht unpopulär wirken mag. Das Problem sind die Mechanismen, die oft nicht Nachdenklichkeit, sondern schnell Klicks, Quote, Auflage fordern und belohnen. Es braucht dazu Medien, die nicht kurzfristig denken, sondern langfristig ihre Glaubwürdigkeit aufbauen.
Wenn wir noch mal aufs große Ganze schauen: Wie konnte es passieren, dass Deutschland zum Zeitpunkt des russischen Angriffs auf die Ukraine so überrascht und so verwundbar war?
Es war eine Mischung aus Bequemlichkeit und materiellem Interesse. In der Regierung, in der Wirtschaft, bei vielen, man hatte sich eingerichtet mit günstigen Bezugsquellen für Energie. Dazu gab es Leute, die wie Gerhard Schröder Geschäfte mit Russland gemacht haben. Schon sehr früh gab es Mahner, insbesondere bei den Grünen, darunter die damals noch nicht sehr bekannte Annalena Baerbock. Sie haben die Gefahr der zunehmenden Abhängigkeit von Russland deutlich benannt. Ich habe das fürs Buch noch einmal recherchiert. Aber die alte Bundesregierung hat alle Warnungen in den Wind geschlagen.
Auf was muss sich Deutschland jetzt einstellen?
Die Bundesregierung muss sich auf dramatische innen- und außenpolitische Veränderungen im Jahr 2024 einstellen. Es wird vier Wahlen geben, bei denen die AfD aller Voraussicht nach stark punkten wird. Die Europawahl und dazu drei Wahlen in Ostdeutschland. Das wird die politische Stimmung in Deutschland prägen. Außerdem muss sich Deutschland auf geopolitische Veränderungen einstellen, weil – so fürchte ich - der Krieg in der Ukraine so schnell nicht zu Ende gehen wird. Wladimir Putin wird vermutlich wieder auf die US-Präsidentschaftswahl schielen. Und sollte der nächste US-Präsident tatsächlich nochmal Donald Trump heißen, muss sich Olaf Scholz sehr gut überlegen, ob er an seinem Grundsatz, sich in der Sicherheitspolitik immer mit den USA abzustimmen und im Gleichklang zu entscheiden, noch festhalten will.
Was halten Sie für die Alternative?
Er hätte zwei Möglichkeiten, beide sind nicht schön. Er kann entweder so agieren, wie von Donald Trump womöglich vorgeschlagen: Nämlich innerhalb kürzester Zeit diesen Krieg zu beenden, was aller Wahrscheinlichkeit nach hieße, die Unterstützung für die Ukraine zu reduzieren oder gar einzustellen. Das würde der bisherigen Politik des Kanzlers widersprechen. Oder er müsste sich vom Gleichschritt mit den USA lösen und die Unterstützung der Ukraine an Stelle der USA leisten. Das wiederum würde Deutschland volkswirtschaftlich und militärisch überfordern. Die Bundesregierung steht vor heikelsten Entwicklungen, im Inneren wie im Äußeren.
Was heißt das für den kommenden Herbst? Wie muss die Regierung in die zweite Halbzeit gehen?
Ich erwarte, dass alle drei Parteien gemeinsam eine schonungslose Analyse ihrer Lage leisten. Es gab kurz vor der Sommerpause einen Koalitionsausschuss ohne ein vorgegebenes Thema. Da ging es nach meiner Kenntnis nur um die inner-koalitionäre Gruppendynamik. Ich gehe davon aus, dass alle drei Parteien wissen: Wir müssen anders auftreten, wir müssen geschlossen handeln, und wir müssen viel mutiger in die Zukunft gehen. Ob sich alle dauerhaft daran halten werden, kann niemand vorhersagen. Das werden wir erst nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern wissen. Insbesondere bei der FDP. Die Liberalen werden sich womöglich bis zum Wahltag, dem 8. Oktober, am Riemen reißen. Aber wenn sie in beiden Fällen miserable Ergebnisse erzielen, wird die Frage neu gestellt: Wie retten wir uns? Und dann drohen neue Konflikte.
Kanzler sein, bei all der Anstrengung, Verantwortung, auch Anfeindung – können Sie verstehen, dass Politiker das unbedingt wollen?
Doch, ich kann es verstehen, auch wenn ich mich selber nicht für einen Weg in der Parteipolitik entschieden habe. Wenn man sich in jungen Jahren für Politik als Laufbahn, als Berufsleben und damit als Leben entscheidet, weil man privat nicht selten zurücksteckt und einen sehr hohen Preis bezahlt, dann versuchen doch viele, immer weiter nach oben zu kommen. Und wenn man dann ganz nach oben kann, wollen sie es auch. Das ist gewissermaßen die Rechtfertigung für die vielen Leiden und Schmerzen, die man Jahre, Jahrzehnte hat ertragen müssen. Aus dieser Perspektive verstehe ich das.