Für den Neuanfang ist alles vorbereitet. Das neue, schräge Logo prangt auf der Bühne. Die neuen Farben, pink und violett, halten sich allerdings im Hintergrund: Rot überwiegt. Zu viele bunte Farben, zu viel Veränderung auf einmal sollen es für die Mitglieder dann doch nicht sein. „Wir sind die Roten, wir bleiben die Roten“, ruft Parteivorsitzende Janine Wissler zur Eröffnung unter viel Applaus.
Vor diesem Spagat stehen die Parteivorsitzenden jetzt: Sie müssen die Erneuerung vorantreiben und junge Wähler für sich gewinnen. Und gleichzeitig dürfen sie die langjährigen Mitglieder nicht so verprellen, dass diese sich abwenden. Der Europaparteitag in Augsburg ist für die beiden Vorsitzenden nach dem Austritt Sahra Wagenknechts die erste große Bewährungsprobe. Und es ist dem Vorstand tatsächlich gelungen, diesen Parteitag zu steuern und größere Konflikte zu vermeiden. Die Delegierten nehmen das Europaprogramm an. Ihr Antrag auf eine Forderung nach einem Mindestlohn von 15 statt bisher 14 Euro wird angenommen. Und sie setzen einen automatischen Inflationsausgleich gegen den Willen des Vorstands durch.
Auch die Plätze eins bis vier der Kandidatenliste nimmt der Parteitag an. Der Parteivorsitzende Martin Schirdewan auf Platz eins bekommt fast 87 Prozent. Die parteilose Klima- und Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete fast 78 Prozent. Die Gewerkschafterin Özlem Demirel holt mit 62 Prozent Platz drei. Das beste Ergebnis erzielt mit 96 Prozent der ebenfalls parteilose Arzt und Aktivist Gerhard Trabert.
Den größten Konflikt des Parteitags kann der Vorstand entschärfen, bevor er auf offener Bühne ausgetragen wird: Zwei widerstreitende Anträge zum Nahostkonflikt. Das progressive Lager um Klaus Lederer und Martina Renner fordert mehr Solidarität mit Israel und ein stärkeres Eintreten gegen Antisemitismus. Das sozialistische Lager kämpft für eine Waffenruhe in Gaza. Schon in der Nacht von Donnerstag auf Freitag einigen sich die Vorstandsmitglieder auf einen Kompromiss: Ein Antrag, der sowohl den Anschlag verurteilt und gleichzeitig eine Waffenruhe für den Gazastreifen fordert. Kurz vor der Debatte am Freitagabend ziehen die Antragsteller zurück und akzeptieren den Kompromiss. Die Debatte wird zwar die emotionalste des Wochenendes, doch die Delegierten stimmen der Position des Vorstands am Ende mit großer Mehrheit zu.
Für grundsätzliche Kritik lassen auch die kurzen Redezeiten bei den Änderungsanträgen zum Europawahlprogramm kaum Platz. Es sei zu lang und behandle zu viele Themen, so die häufigste Kritik. Der Markenkern der Linken als Partei der sozialen Gerechtigkeit komme zu kurz. Warum das Wort „sozialistisch“ in dem Programm einer sozialistischen Partei nicht vorkomme, fragen mehrere Delegierte. Die Linke dürfe keine Mischung aus Grünen und SPD werden, mahnt eine weitere.
Dieses besorgte Raunen der Parteibasis bleibt während dieses Parteitags aber genau das: ein Hintergrundgeräusch. Auch im Reformerlager der Bundestagsfraktion, die lange versucht hatte, die Abspaltung der Wagenknecht-Anhänger aufzuhalten, ist die Stimmung eher müde und bedeckt als kämpferisch. Die Rede von Noch-Fraktionschef Dietmar Bartsch wird auf den Morgen des zweiten Tages gelegt, nachdem es zuvor bis Mitternacht gegangen war. Der Saal füllt sich erst langsam, während Bartsch spricht. Zur Rede der Vorsitzenden zwei Stunden später ist er voll.
Im Scheinwerferlicht stehen andere: Sie sei erst vorgestern in die Linke eingetreten, sagt Liza Pflaum auf der Bühne. Die 33-Jährige stellt die Kampagne „Eine Linke für alle“ vor. Eine Initiative, die neue Parteimitglieder in Zusammenarbeit mit dem Parteivorstand gestartet haben. Auch Cansin Köktürk steht auf der Bühne. Die Sozialarbeiterin hat ebenfalls in den Tagen zuvor ihren Wechsel von den Grünen zur Linken verkündet. Ob sie verstehen könne, dass sich ältere Parteimitglieder etwas überfahren fühlen, von dieser Offensive der Neuen? „Ich habe es mir ja nicht alleine ausgedacht. Es ist eine Dialogkampagne, entwickelt von Mitgliedern, die schon lange in der Partei aktiv sind und Menschen, die jetzt dazukommen“, sagt Liza Pflaum. Und: „Es braucht jetzt frischen Wind.“
Die Initiative soll neue Mitglieder anlocken, aber auch die Organisation stärken. Sie sei langfristig mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 angelegt, sagt Pflaum. Die Basis soll einbezogen werden. Die Kampagne suche direkten Kontakt zu den Kreisverbänden. „Wir wollen gucken, was die Menschen vor Ort brauchen und wie wir sie in ihrer Arbeit konkret unterstützen können. Auch viele Kreisverbände haben unter den Streitigkeiten gelitten. Mit den neuen Mitgliedern gibt es auch wieder Energie, etwas aufzubauen.“ Mit welchen Aktionen können die Kreisverbände vor Ort für die Menschen sichtbar und nützlich werden? Was kann die Partei den Kreisverbänden für diese Arbeit an die Hand geben? Diese Fragen soll die Kampagne angehen.
Im Landesverband in Thüringen sind die gemeinsamen Strategien des Parteivorstands offenkundig unbekannt. Hier will man sich für die Landtagswahl im September auf das eigene Programm konzentrieren und auf Bodo Ramelow natürlich. Thüringen ist durch einen eigenen linken Ministerpräsidenten, der dazu noch 2015 persönlich Geflüchtete in Empfang nahm, aber ohnehin ein Spezialfall unter den ostdeutschen Bundesländern. Mit Carola Rackete fremdelt hier kaum jemand.
Die Aktivistin sorgt vor allem in Landesverbänden wie Sachsen für Sorgenfalten. In einem urbanen, linken Milieu ist die einstige Flüchtlingsboot-Kapitänin bekannt. Dort sorgte die Bekanntgabe ihrer Kandidatur für Euphorie. Aber kann sie auch auf dem Land im Osten Stimmen gewinnen?
Auf die Frage, wie sie mit der Kluft im Zuspruch der Partei umgehen will, hat Carola Rackete eine Antwort: „Wenn man praktisch zusammenarbeitet und sich kennenlernt, sind die Vorurteile schnell ausgeräumt.“ Nach dem Parteitag in Sachsen sei sie in den vergangenen Wochen in der Lausitz unterwegs gewesen. Dort ging es vor allem darum, dass die EU-Gelder für den Strukturwandel auch ankommen. „Die werden an die Bundesregierung überwiesen und 15 Prozent davon gehen gerade in die Lausitz. Da trifft Kommunalpolitik konkret auf Europapolitik.“
Im Wahlprogramm gehe es immer um die Frage, wie Klimaschutz sozial gerecht ausgestaltet werden könne, sagt Rackete. Große Konzerne will die Linke entmachten. Als Beispiel nennt Rackete das Verbot der sogenannten „Share-Deals“, die sie verbieten will. „Eigentlich dürfen nur Landwirte Äcker kaufen, aber indem Konzerne per Share-Deal in Bauernhöfe investieren, erhalten sie auch das Recht dazu“, sagt Rackete. „Sie treiben damit gerade die Pachtpreise in einigen Regionen in die Höhe. In Ostdeutschland haben sich die Preise in den letzten 15 Jahre verdoppelt.“
Auch Martin Schirdewan betont: Soziale Gerechtigkeit durchziehe als Kernthema der Linken das gesamte Programm. Aber man müsse damit gleichzeitig die großen Fragen beantworten, die die Klimakrise nun einmal stelle. Es brauche einen Umbau der deutschen Industrie in klimaneutrale Wirtschaft. Die Linke fordert dafür ein großes Investitionsprogramm. „Das ist nicht zu viel“, sagt Schirdewan. „Das sind genau die Antworten, die wir in dieser gesellschaftlichen Situation brauchen.“ Veränderungen erzeugten am Anfang immer Gegenwind, ist Schirdewan überzeugt. „Das ist die Antithese zur These“, sagt der Parteivorsitzende. „Ich freue mich schon auf die Synthese.“ Könnte das Comeback der Linkspartei wirklich so dialektisch problemlos verlaufen?
Ein Hoffnungsschimmer dafür ist Ines Schwerdtner. Die 34-Jährige wird auf Platz fünf der Kandidatenliste gewählt. Sie kommt aus dem sächsischen Werdau und war bis Mitte des Jahres Chefredakteurin des sozialistischen „Jakobin Magazin“. In einer Stichwahl setzt sie sich am Samstag gegen Daphne Weber durch, die Favoritin des Vorstands. Ihr Sieg kann durchaus als Akzent der Partei gegen den Vorstandskurs gewertet werden. Mit der Bekanntgabe ihrer Kandidatur war Schwerdtner bereits zur Tour durch Sachsen-Anhalt aufgebrochen und begleitete das mit einer ebenso persönlichen wie professionellen Social Media Kampagne „Ost-Tour meets Socialism in Our Time!“ Schwerdtner könnte tatsächlich so etwas wie die ersehnte Synthese aus einer jungen Linken werden, die den Grünen Wählern abspenstig machen kann – die aber ebenso einen Zugang zu ostdeutschen „Altlinken“ findet.