Mit dem von der Ampelkoalition beschlossenen Wahlrecht könnte künftig die CSU aus dem Bundestag fliegen, auch wenn sie in Bayern alle Direktmandate gewinnt. Welche Folgen hat der Beschluss in Ihren Augen?
Ursula Münch: Bisher ist der Fall, dass die CSU bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt, nie eingetreten. Aber das heißt nicht, dass das immer so bleibt. Bei der letzten Bundestagswahl hat die CSU mit 5,2 Prozent diese Hürde nur sehr knapp übersprungen. Was wir jetzt schon sehen, ist eine ganz dramatische Verschärfung der Stimmung. Das wird sich auch auf den kommenden Landtagswahlkampf auswirken. Die CSU reagiert mit durchaus nachvollziehbarer Aggressivität auf den Beschluss und inszeniert sich als bedrohte Minderheit. Gleichzeitig erlebe ich in Gesprächen mit Kollegen aus anderen Bundesländern, dass woanders diese ganze bayerische Aufregung überhaupt nicht verstanden wird. Wenn die CSU als Regionalpartei eine bundesweite Rolle spielen wolle, heißt es, müsse sie eben dieselben Regeln akzeptieren wie alle anderen auch – also auch die Fünf-Prozent-Hürde.
Die Ampelparteien haben der CSU vorgeschlagen, eine Listenverbindung mit der CDU einzugehen. Das ist aber laut Wahlrecht nicht möglich. Halten Sie es für denkbar, dass stattdessen eine alte Diskussion wieder auf die politische Agenda kommt: eine bundesweite Ausdehnung der CSU? Dann hätte sich das Problem mit der Fünf-Prozent-Klausel erledigt.
Das hätte sich dann sicherlich erledigt, dafür gäbe es viele andere Probleme. Angeblich gab es seitens der Ampel Angebote an die Union, das Wahlrecht noch mal nachzubessern, um Listenverbindungen zu ermöglichen. Abgesehen davon, dass ich es unmöglich finde, im Nachhinein nochmal eine solche Änderung an das Gesetz dranzuschustern, halte ich das auch für politisch hochproblematisch. Denn damit würde man über das Wahlrecht Parteien dazu zwingen, ihr Verhältnis untereinander zu verändern. Das wäre dann keine freiwillige Zusammenarbeit mehr wie in der gemeinsamen Unions-Bundestagsfraktion, sondern etwas Erzwungenes.
Im Jahr 1976 hat der von Franz Josef Strauß initiierte Kreuther Trennungsbeschluss zu heftigem Streit zwischen CDU und CSU geführt und wurde schnell wieder kassiert. Aber könnte heute eine einvernehmlich vereinbarte Ausdehnung der CSU nicht sogar eine reizvolle Strategie für die Union sein? Sie könnte damit ihr Wählerpotenzial verbreitern und zugleich die AfD schwächen.
Das halte ich für eine interessante Überlegung, die in mancherlei Hinsicht für die Union durchaus attraktiv sein könnte. Aber es gibt gewichtige Gegenargumente. Für die CSU ist natürlich der Bundestag wichtig, aber wichtiger ist für sie der Landtag. In einer Alleinregierung oder notfalls in einer Koalition wie jetzt mit den Freien Wählern den Ministerpräsidenten zu stellen, hat für die CSU immer Vorrang gehabt. Und ob es für die CSU ein Vorteil wäre, nicht mehr nur bayerische Interessen zu vertreten, sondern auf Bundesebene die Interessen von Mecklenburg-Vorpommern vertreten zu müssen, bezweifle ich. Die CSU würde damit ihr Alleinstellungsmerkmal aufgeben.
Dem könnte man entgegenhalten, dass die CSU in Bayern schon seit Langem weit unter der früher selbstverständlichen 50-Prozent-Marke liegt. Statt eine Koalition mit den Freien Wählern könnte sie genauso gut eine Koalition mit der CDU bilden, die es dann auch in Bayern gäbe.
Da haben Sie recht. Die Möglichkeit, die Wählerbasis der Union insgesamt zu verbreitern, ist eine nachvollziehbare Überlegung, gerade angesichts der immer schwierigeren Koalitionsbildungen. Das wäre sozusagen eine Retourkutsche auf den Beschluss der Ampel. Trotzdem glaube ich, dass sich die CSU damit insgesamt schaden würde.
Nach der Wende hat es in der CSU die Überlegung gegeben, sich in die neuen Bundesländer auszudehnen. Das wurde dann verworfen, vor allem auf Betreiben des damaligen CSU-Chefs Theo Waigel. Könnte eine Ost-CSU neben der CDU für die Union noch mal eine strategische Option werden, auch gegen die AfD?
Ich halte es für sehr schwierig, in Gebieten neu Fuß zu fassen, in denen die AfD bereits fest verankert ist. Hinzu kommt, dass man, wenn man der AfD Wähler abspenstig machen will, sich möglicherweise auch so positionieren muss wie die AfD. Aber will man das wirklich? Ich glaube nicht, dass die Not der CSU so groß ist, dass sie über derartige Schritte nachdenkt. Ich denke, dass die CSU darauf setzt, dass die Neuregelung vor dem Bundesverfassungsgericht scheitert.
Auch wenn die CSU jetzt sehr empört ist: Bietet ihr der Beschluss der Ampelregierung nicht auch eine Mobilisierungschance – für die Landtagswahl im Herbst, aber auch für die nächste Bundestagswahl?
Ja. Das ist für die CSU ein echtes Brüllerthema. Ich glaube deshalb, dass die CSU mit Blick auf die nächste Bundestagswahl einen völlig anderen Wahlkampf führen wird und dass sich auch das Wahlverhalten der Bürger ändern wird. Die FDP hat mit dem neuen Wahlrecht in meinen Augen ein ganz massives Eigentor geschossen hat. Denn in Bayern, immerhin das Bundesland mit der zweithöchsten Einwohnerzahl, wird es für Wählerinnen und Wähler, die mit der Erststimme CSU wählen, noch unattraktiver, die Zweitstimme der FDP zu geben. Das werden sich die Leute sehr genau überlegen.