Analyse
Erscheinungsdatum: 01. Juli 2023

Deutsch-französische Beziehungen: „Immer wieder schaut das eine Land auf das andere"

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Seit 2002 ist Frank Baasner, 66, Direktor des Deutsch-Französischen Instituts (dfi), das in diesem Jahr 75 Jahre alt wird. Als Co-Direktor des 2020 gegründeten Deutsch-Französischen Zukunftswerks (DFZW) geht er der Frage nach, was beide Länder voneinander lernen können. Derzeit schaut er auch auf die Unruhen in Frankreich.

Emmanuel Macron hat wegen der Unruhen nach der Erschießung eines Jugendlichen seinen Staatsbesuch abgesagt. Wie groß ist das Problem mit Polizeigewalt in Frankreich im Vergleich zu Deutschland?

Strukturell ist es so, dass die Polizei – Ausnahmen gibt es immer – ein anderes Verhältnis zur Bevölkerung hat als zum Beispiel in Deutschland. Hier lernt die Polizei systematisch Deeskalation, in Frankreich ist das nicht so selbstverständlich, vor allem bei den großen Einheiten der nationalen Sicherheitskräfte. Dort ist es etwas militarisierter. In Deutschland sind 95 Prozent der Sicherheitskräfte auf Landesebene beschäftigt. Das heißt, sie haben vielleicht eine größere Nähe zur Realität ihrer jeweiligen Region.

Welche Rolle spielen die Banlieues, die Vorstädte?

Die Problematik ist so alt wie die Viertel selbst. Sie wurden in den Siebziger- und Achtzigerjahren gebaut, das hat zu sozialer Segregation geführt. Das gibt es in Deutschland auch, aber anders. In Frankreich sind die sozialen Spannungsgebiete geografisch oft klar beschreibbar. Es mag zudem sein, dass ein Aspekt des gegenseitigen Aufputschens dazukommt. Also, dass die Polizei ganz bewusst auch als Feind wahrgenommen wird. Gewalt gibt es auf beiden Seiten, das sieht man derzeit wieder. Da herauszukommen ist sehr schwierig. Einige Städte haben es aber geschafft.

Wie?

Bordeaux beispielsweise hat einen Vorort komplett neu gebaut. Man hat ihn sozusagen eingemeindet und die Straßenbahn bis dorthin verlängert. Das hat eindeutig geholfen.

Wie steht es um die deutsch-französischen Beziehungen allgemein?

Die externen Schocks in den letzten Jahren so stark gewesen sind, dass es kein Wunder ist, dass die Europäer Mühe haben, gemeinsame Positionen zu finden. Das sage ich vorneweg, weil man etwas nachsichtig sein sollte, wenn man kritisiert, was alles nicht funktioniert. Was die deutsch-französischen Beziehungen angeht: Wir haben eine ganze Reihe von Themen, wo die Interessenunterschiede sehr groß sind: Das betrifft die Verteidigung, die Frage „Gemeinsame Schulden: ja oder nein?“ und vielleicht sogar das Verhältnis zu China. Auch bei der Energiepolitik sind wir nicht auf einem Kurs.

Was genau macht das Zukunftswerk?

Es hat die Aufgabe, nicht auf die großen Politikfelder zu schauen, sondern darauf, was für gute Lösungsansätze vor Ort in der Gesellschaft entwickelt werden – zum Beispiel im Klimaschutz. Wie schaffen Städte und Kommunen die Mobilitätswende, wie gehen sie um mit Energiesparmaßnahmen und der Nutzung von Flächen? Immer wieder schaut das eine Land auf das andere: Das 49-Euro-Ticket zum Beispiel hat großes Interesse hervorgerufen. Es gibt eine kleine Arbeitsgruppe, die schaut: Könnte man nicht auch in Frankreich so etwas machen? An solchen Beispielen merkt man: Im konkreten Tun sind unsere Gesellschaften vielleicht gar nicht so weit auseinander.

Das deutsche Gesundheitsministerium orientiert sich beim Thema Hitzeschutzplan derzeit an Frankreich. Was sind noch Bereiche, in denen beide Länder voneinander lernen könnten?

Deutschland ist durch seine föderale Struktur in manchen Punkten besser aufgestellt, weil die Kommunen sich direkt mit den Ländern absprechen können. Gleichzeitig gelten in jedem Land andere Regeln, etwa beim Baurecht. Das sieht man jetzt auch bei der kommunalen Wärmeplanung: Das macht jedes Land ein bisschen anders. Da haben die Franzosen mit ihrem Zentralismus Vorteile – nicht immer, aber manchmal schon, weil eben dieselben Regeln für alle gelten. Da gucken die Deutschen ganz interessiert hin. Beispiel Flächenversiegelung: Da haben die Franzosen ein verbindliches Gesetz für eine Null-Netto-Versiegelung bis 2050, Deutschland nicht.

Das DFZW hat 2022 eine Sammlung von sieben Handlungsempfehlungen mit dem Titel „Sozial-ökologische Transformation beschleunigen!“ veröffentlicht. Wie hat die Politik darauf reagiert?

Es gibt eine Empfehlung zum Thema Ernährung, die durchaus ein Echo findet in den Verwaltungen und bei Abgeordneten. Der Vorschlag ist, dass man die europäischen Vergaberegeln dahingehend verändert, dass die Nahrungsmittelversorgung, zum Beispiel für Schulkantinen, regional priorisiert werden darf. Bisher zählt hauptsächlich der Preis. Mit Blick auf die Kreislaufwirtschaft, die Bio-Förderung und die Landwirtschaft vor Ort möchte man darauf hinwirken, dass das Kriterium „regionale Bioprodukte“ in das Vergaberecht aufgenommen wird.

Wie stehen die Chancen, dass das umgesetzt wird?

Bis jetzt hat es noch nie funktioniert, dass Handlungsempfehlungen einfach so umgesetzt werden. Das ist ganz schwierig, und daher arbeiten wir dran. Wir bringen das erst mal in die Verwaltungen. Damit diejenigen, die mit den Vorschriften arbeiten und selbst vielleicht sehen, dass es derzeit Probleme gibt, sich das zu eigen machen. Der zweite Weg ist, dass wir hinbekommen, dass sich die Abgeordneten in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung damit befassen.

Es gibt inzwischen eine Vielzahl an deutsch-französischen Institutionen. Was bringen die?

Ohne eine Institutionalisierung der Zusammenarbeit ist es schwer, Einfluss auszuüben. Aber das allein reicht natürlich nicht aus. Das dfi hat über Jahrzehnte gute Erfahrungen damit gesammelt, möglichst ausgewogen den politischen Dialog zu unterstützen – mit Factsheets, Vergleichen und Analysen.

Und das Zukunftswerk?

Es hat die Aufgabe, Empfehlungen direkt in die Politik einzubringen, in den Deutsch-Französischen Ministerrat und in die Parlamentarische Versammlung. Wir werden sehen, ob das effektiver ist. Es ist noch zu jung, um sagen zu können, ob es funktioniert oder nicht.

Es gibt immer wieder politische Absichtserklärungen und Ankündigungen, nicht immer folgt etwas daraus.

Wenn man die Anzahl der Ankündigungen vergleicht mit der Anzahl der umgesetzten Dinge, dann ist da eine gewisse Lücke, das stimmt. Einen systematischen Überblick gibt es nicht, aber immer wieder parlamentarische Anfragen – übrigens auch von der AfD. Nehmen Sie den Aachener Vertrag von 2019: Darin gab es erstaunlich viele konkrete Vorhaben.

Aber?

Es ist noch lange nicht alles umgesetzt. Von daher ergibt es schon Sinn, immer wieder zu fragen: Was wurde daraus? Das gilt für Politik allgemein und ist auch eine Aufgabe der Medien.

Ist das deutsch-französische Verhältnis ein Elitenprojekt geworden? Es gibt viele Thinktanks und Austausch in den Hauptstädten, aber die jeweilige Sprache lernen zum Beispiel immer weniger Schülerinnen und Schüler.

In der Meinungsumfrage anlässlich 75 Jahren dfi finden Sie Belege: Das Interesse nimmt eher ab. Sie finden dort auch eine Statistik darüber, wie oft sich Menschen überhaupt mal mit dem anderen Land auseinandersetzen. Es bleibt eine Minderheit. Ob das immer die Elite ist? Kann sein. Aber ich kenne auch viele Städtepartnerschaften, wo das nicht der Fall ist. Auf jeden Fall sind es zu wenige Menschen.

Kann man dagegen etwas tun?

Man muss im Pflichtschulunterricht in ganz Europa, nicht nur in den Gymnasien, ein Fach „Unser Europa" einführen. Das kann jedes Land ausgestalten, wie es will. Wir brauchen etwas, wo wir uns systematisch mit uns selbst beschäftigen.

Inwiefern?

Es geht um Fragen wie: Kenne ich Polen, was weiß ich vom Baltikum, wie sieht die Welt aus Griechenland aus? Der zweite Hebel sind die Medien: Wir leben in abgeschotteten Blasen nationaler Kommunikation. Alle Versuche, transnationale Medien zu machen, die nicht wie Politico nur für Europa-Spezialisten sind, sind bis jetzt gescheitert. Es bräuchte eine systematische Verschränkung der nationalen Leitmedien, zum Beispiel eine Europa-Seite in jeder Wochenend-Ausgabe.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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