Analyse
Erscheinungsdatum: 24. Juni 2025

Der Kanzler in der neuen Welt: Deutschlands mächtigster Pragmatiker

Der Kanzler wird zu dem, was er an seinem Vorgänger stets kritisierte: Ein Pragmatiker. Alles für seine 4 Prioritäten.

Wer sich an Friedrich Merz im Dezember 2024 erinnert, staunt nicht schlecht, wenn er sich den gleichen Friedrich Merz im Juni 2025 ansieht. Persönlich ist er natürlich der Gleiche geblieben. Aber die ersten Beschlüsse seiner Regierung zeigen einen Kanzler, der in zentralen Fragen eine steile Lernkurve hinter sich hat. Schaut man auf den Umgang mit Schuldenbremse, Donald Trump und Einsparversprechen, dann lebt er einen Pragmatismus vor, den er bei seinem Vorgänger (und dessen Vorgängerin) noch scharf kritisierte.

Der Grund: Merz hat vier Prioritäten und ordnet ihnen alles unter. Auch seine Wahlkampfversprechen. Erste Priorität: Deutschland und Europa müssen „wieder stark sein“, wie er es ausdrückt. Deshalb hat er binnen Tagen einer Öffnung der Schuldenbremse fürs Militärische zugestimmt und mit einem „What ever it takes“ unterlegt. Bisher fühlt er sich dabei bestätigt. In Europa haben vor allem die großen Staaten diesen Schritt begrüßt, weil sie die deutsche Sparpolitik satthatten. In der Nato haben es vor allem viele Kleine gelobt, weil sie es als lang erhofftes Zeichen der Solidarität empfinden. Erste Bilanz, pünktlich zum Nato-Gipfel: Ziel erreicht, Wirkung gelungen.

Die zweite Priorität: Deutschland braucht nichts so sehr wie ein Gefühl des Aufbruchs. Um das nicht zu gefährden, hat Merz zuletzt in den Verhandlungen mit den Ländern über Kompensationen für Mindereinnahmen so gut wie alle Forderungen erfüllt, damit es bei der Verabschiedung des sogenannten Investitionsboosters am 11. Juli im Bundesrat keinen Ärger mehr gibt. Seine Botschaft: Am Geld darf es nicht scheitern; das Land kann sich keinen Streit mehr erlauben. Die Bilanz bleibt offen. Aber Merz handelt auch hier nicht (mehr) wie einer, der anderen Ansagen macht. Er tut, was er braucht, um das wichtigere Ziel zu erreichen. Das klingt fast schon nach Angela Merkel.

Die dritte Priorität: Kein Streit in der Koalition. Deshalb halten Merz und seine Leute mindestens bis zum SPD-Parteitag am Wochenende auch dort still, wo aus Sicht der Union eigentlich viel passieren müsste: beim Bürgergeld. Im Wahlkampf hieß es von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, man könne an der Stelle Milliarden einsparen. Ein Blick auf den gerade beschlossenen Haushalt aber zeigt, dass diese Zielmarke fürs Erste deutlich verfehlt wird. Und das, obwohl Merz erklärt hatte, eine Lockerung bei den Schulden komme mit ihm nur „in der richtigen Reihenfolge“ infrage. Nach dem Motto: Erst sparen, dann schauen. Nach zwei Monaten im Amt wird klar: Frieden in der Koalition ist wichtiger als wichtigste Wahlkampfbotschaften.

Und die vierte Priorität: Alles tun, damit Donald Trump nicht vergrault wird. Hier zeigt sich, wie sehr innere Überzeugungen und taktische Überlegungen auseinanderklaffen können. Im Februar, nach dem Auftritt von J.D. Vance in München, gab sich Merz noch kämpferisch im Umgang mit der US-Administration. Inzwischen haben er und seine wichtigsten Diplomaten alles getan, um Trump beim G7-Treffen und beim Nato-Gipfel bei Laune zu halten. Taktisch ist das aus Sicht der Merz-Mannschaft unvermeidlich; von außen betrachtet erweckt es den Eindruck, als ducke man sich vor einem unberechenbaren Willkürherrscher. Die Zwischenbilanz zum Manöver: mäßig. Der Einfluss auf Trump bleibt überschaubar.

Und so bleibt nach sieben Wochen im Amt eines hängen: Obwohl Merz den Pragmatismus früherer Regierungen gerne und oft gegeißelt hat, ist er aktuell der mächtigste Pragmatiker Deutschlands.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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