
Berlin.Table: Die Ampel hat es beim Wahlrecht geschafft, mit dem richtigen Ziel – einer Verkleinerung des Bundestags – in eine verheerende Debatte zu geraten. Was ist da schief gelaufen?
Robert Vehrkamp: Nicht nur das Ziel hat gestimmt, sondern auch der Weg. Der Gesetzentwurf der Ampel aus dem Januar war in vielerlei Hinsicht ein großer Wurf. Dann wurden auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens noch ein paar Änderungen vorgenommen, und das Debatten-Elend nahm seinen Lauf. Der „große Wurf“ wird nun zum „Angriff auf die Demokratie“ verzerrt. Es bleibt aber im Kern die größte Wahlrechtsreform der Nachkriegszeit.
Wenn man den Ärger anschaut, ist das für die Katz.
Nein. Das würde ich nicht sagen. Überhang- und Ausgleichsmandate werden abgeschafft, die neue Regelgröße von 630 wird künftig für jedes denkbare Wahlergebnis eingehalten, das Verhältniswahlergebnis bleibt unverzerrt, die Personalisierung in den Wahlkreisen bleibt so weit wie möglich erhalten, und alle Parteien werden im Verhältnis ihrer Wahlergebnisse gleich stark an der Verkleinerung des Bundestages beteiligt. Eigentlich ein großer Erfolg! Viele hatten dem Bundestag das schon gar nicht mehr zugetraut. Das alles wird aber nun überlagert von den tatsächlichen und eingebildeten Folgen der Abschaffung der Grundmandatsklausel.
„Die CSU hat mit dem Ast, auf dem sie sitzt, auf die Reform eingehauen.“
In der ersten Fassung ging es gar nicht um die Grundmandatsklausel. Nun ist sie gefühlt in letzter Sekunde abgeschafft worden. Warum das?
Dazu gibt es bis heute unterschiedliche Versionen. Die wahrscheinlichste scheint mir: Es war eine Reaktion der Ampel auf eine als Unverfrorenheit empfundene Drohung der Union, den Ampelvorschlag vor dem Bundesverfassungsgericht zu beklagen. Und zwar ausdrücklich auch wegen der Grundmandatsklausel. Die erste Anregung, sie aus systematischen Gründen im neuen Wahlrecht abzuschaffen, kam nicht von der Ampel, sondern von den Rechtsexperten der Union. Und es war zuallererst die CSU, die diese Drohung aufgenommen hat. Sie hat also mit dem Ast, auf dem sie selber sitzt, auf die Reform der Ampel eingehauen.
Selbst wenn: Wäre es nicht intelligenter und für das Ziel besser gewesen, die Folgen dieses Schrittes genauer abzuwägen?
Es gibt für die Abschaffung der Grundmandatsklausel durchaus gute Gründe. Drei Direktmandate mit relativer Mehrheit zu gewinnen, ist bei den heutigen Stimmverhältnissen in den Wahlkreisen kein zuverlässiger Indikator mehr für eine besondere regionale Verwurzelung und Stärke einer Partei, die ein Unterlaufen der 5-Prozent-Hürde rechtfertigen könnte. Nicht ihre Abschaffung ist also das Problem, sondern die Umstände, die dazu geführt haben. Ebenso die mangelnde Begleitung und Abfederung ihrer Nebenfolgen.
Es heißt, nur die Linke und die CSU träfe das neue Gesetz. Ist es nicht verständlich, dass diese beiden Parteien es als direkten Angriff erleben?
Nein, aus meiner Sicht stimmt das nicht. Zunächst einmal: Wie sich ein Wahlrecht auf die Parteien auswirkt, darüber entscheiden in einer Demokratie allein die Wählerinnen und Wähler. Niemand weiß heute, wie die nächste Wahl ausgeht. Deshalb sind vermeintliche Gewissheiten darüber, welche Partei wie betroffen ist, reine Spekulation. Das gilt auch für die vorschnell behauptete Selbstbevorteilung der Ampel. Die könnte sich durch ihre eigene Reform auch selbst überflüssig machen, wenn es beim Ausscheiden von ein oder zwei Parteien aus dem Bundestag wieder zu einer Zweier-Koalition kommt. Die werden rechnerisch umso wahrscheinlicher, je weniger Parteien einziehen. Das Ergebnis eines Scheiterns der Linkspartei an der 5-Prozent-Hürde könnte dann eine Schwarz-Grüne Mehrheit sein, für die es bei Einzug der Linkspartei über die Grundmandatsklausel nicht gereicht hätte. Wer also wie durch das neue Gesetz betroffen ist, bestimmen noch immer die Wähler.
Die CSU hat sich schon als Märtyrerin präsentiert, weil sie plötzlich in Gefahr geraten ist. War das das heimliche Ziel der anderen?
Mir die CSU als Märtyrerin im Wahlrecht vorzustellen, fällt schwer. Es gibt in der Nachkriegsgeschichte wohl keine zweite Partei, die ihre parteipolitischen Eigeninteressen auch im Wahlrecht so egoistisch und erfolgreich vertreten hat, wie die CSU. Das ist ja sogar Teil ihres Markenkerns. Sie hat alle Reformen verhindert, weil sie unbedingt an ihrer Chance auf das Gewinnen möglichst aller Direktwahlkreise in Bayern festhalten wollte. Auch wenn die relativen Mehrheiten in vielen Wahlkreisen immer kleiner werden – was am stärksten zur Aufblähung des Bundestags beigetragen hat. Das darf man nicht vergessen. Auch wenn die CSU es jetzt vergessen machen möchte. Erst die Ampelmehrheit hat die Kraft zu einer wirksamen Reform gefunden. Das gefällt der CSU nicht. Für sie war ja auch der erste Entwurf der Ampel schon ein „Schurkenstück“, weil sie den Verlust von ein paar Wahlkreisen befürchtete. Sollte es also eine Benachteiligung der CSU geben, hätte sie selbst daran kräftig mitgewirkt – aber es gibt sie gar nicht.
Wie lässt sich das Problem mit der Grundmandatsklausel für die CSU lösen, wenn man mal kurz den Schlachtenlärm einstellt?
Für die CSU gäbe es aus meiner Sicht eine sehr einfache Lösung. Die Union tritt seit 1949 bei Bundestagswahlen als schwesterparteiliches Wahlbündnis an. Die CSU nur in Bayern, die CDU in allen anderen Bundesländern. Wohlgemerkt: nicht-konkurrierend, mit einem gemeinsamen Wahlprogramm und einen gemeinsamen Kanzlerkandidaten. Und nach der Wahl bilden sie eine Fraktionsgemeinschaft. Wer CSU wählt, bekommt also auch CDU, und umgekehrt. Das ist das bewährte Unionsmodell. Wahlrechtlich ist nach meiner Lesart die Union deshalb schon immer ein „Wahlbündnis mit Parteieigenschaft“. Und das würde auch nach derzeitiger Rechtslage schon ausreichen, um in der Oberverteilung der Mandate als Partei behandelt zu werden, auch ohne Parteienfusion oder Listenverschmelzung.
Jetzt muss man aber daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht 1990 genau das untersagt hat. Damals wollte die CSU mit der ostdeutschen DSU ein Wahlbündnis eingehen – und die obersten Richter haben Nein gesagt.
Das war eine historisch und wahlrechtlich nicht vergleichbare Konstellation. Die CSU hat damals überlegt, der DSU über drei Wahlkreiskooperationen den Einzug in den Bundestag zu ermöglichen. Solche gemeinsamen Wahlkreiskandidaturen zur Umgehung der 5-Prozent-Hürde sind in der Tat verfassungswidrig. Das Unionsmodell zwischen CDU und CSU ist aber wahlrechtlich sehr viel substantieller als eine Zählgemeinschaft in drei Wahlkreisen zur Umgehung der 5-Prozent-Hürde.
Wie also würde das jetzt gehen?
Aus meiner Sicht wäre das durch eine einfache Erklärung gegenüber der Bundeswahlleiterin schon heute möglich. Darüber streiten die Experten aber noch etwas. Aber selbst wenn: Die Ampel hat der Union offen angeboten, über weitere wahlrechtliche Anpassungen sofort zu reden, sollte es mit der Erklärung an die Bundeswahlleiterin nicht getan sein. Doch statt das zumindest einmal in Ruhe zu erwägen, hat die Union es sofort als „übergriffig“ attackiert und jedes weitere Gespräch abgelehnt.
Hat sie das gewundert?
Ja! Schon weil aus ihrem kurzfristigen Wahlkampfkalkül sehr schnell eine nachhaltige Beschädigung ihres eigenen Geschäftsmodells werden könnte. Es geht doch weder um eine Fusion der Parteien noch um eine klassische Listenverbindung. Es geht lediglich um den Verrechnungsmodus der Mandate in der Oberverteilung. Niemand will das Unionsmodell zerstören. Ganz im Gegenteil. Es sollte vor allem der Union selber darum gehen, es wahlrechtlich abzusichern. Verweigert sich die Union oder die CSU, würde das nicht nur zu ihren eigenen Lasten gehen, sondern auch zu Lasten von Bayern als Bundesland. Die CSU-Mandate unterhalb von 5-Prozent würden dann nicht an die anderen Parteien in Bayern, sondern vor allem an die anderen Parteien in den anderen Bundesländern gehen. Kann die CSU das wirklich wollen?
Und wenn doch?
Dann müsste die Ampel die Interessen Bayerns vor der CSU schützen. Zum Beispiel durch eine fixe vorab-Verteilung der Mandate auf die Bundesländer, damit verlorene CSU-Mandate dann zumindest in Bayern bleiben. Aber so weit sollte es nicht kommen müssen. Das Unionsmodell als Wahlbündnis ist die eindeutig bessere Lösung, vor allem für die Union selber.
Für die CSU wäre das vielleicht eine Lösung. Aber nicht für die Linkspartei.
Da würde ich mal schauen, was die Grundmandatsklausel zuletzt bewirkt hat. Bei der letzten Bundestagswahl hat ein Wahlkreisergebnis von lediglich 22,8 Prozent und 8000 Stimmen Vorsprung vor dem Zweitplatzierten bewirkt, dass die Partei trotz Verfehlung der 5-Prozent-Hürde in voller Fraktionsstärke in den Bundestag eingezogen ist. Das ist nur schwer begründbar. Auch dass die Linkspartei in Ostdeutschland deutlich stärker ist als in Westdeutschland, rechtfertigt noch keine wahlrechtliche Privilegierung. Die FDP ist als typische Westpartei 2013 ausgeschieden, obwohl sie in Westdeutschland die 5-Prozent-Hürde übersprungen und doppelt so stark wie in Ostdeutschland abgeschnitten hat. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen sie als westdeutsche Regionalpartei zu privilegieren.
Es gibt nun Vorschläge, um das Ganze doch noch zu retten. Zum Beispiel gibt es die Idee, aus der 5-Prozent-Hürde eine 4-Prozent-Hürde zu machen. Wäre das eine Lösung?
Diskutiert werden gleich drei sehr weitgehende Lösungsvorschläge, aber ich rate bei allen zu Sorgfalt und Vorsicht. Im Wahlrecht sollte man die unbeabsichtigten Nebenfolgen und Anreizwirkungen immer im Blick behalten. Sonst passiert genau das, was der Ampel mit der Abschaffung der Grundmandatsklausel passiert ist. Der erste Vorschlag, aus der 5-Prozent-Hürde eine 3- oder 4-Prozent-Hürde zu machen, könnte die Segmentierung des Parteiensystem deutlich verstärken. Die Wirkung der 5-Prozent-Hürde ist ja keine rein rechnerische, sondern vor allem auch eine psychologische. Viele Wähler ziehen die Stimmabgabe für Splitterparteien erst gar nicht in Erwägung, weil sie ihre Stimme nicht verschenken wollen. Diese psychologische Wirkung würde durch eine Absenkung der Hürde geschwächt, und könnte das Verhalten der Wähler stärker beeinflussen, als es die rein rechnerische Auswirkung einer verringerten Hürde suggeriert. Wir könnten schneller eine Zersplitterung wie zum Beispiel in Israel bekommen, als viele denken.
Was halten Sie von einer regionalen Sperrklausel, also eine 5-Prozent-Klausel in einem Bundesland?
Sie würde neue Anreize für Parteien schaffen, sich regional aufzustellen und über eine Föderalisierungsstrategie den Einzug in den Bundestag zu schaffen. Wollen wir das wirklich? Also wahlrechtliche Anreize dafür setzen, dass unser Parteiensystem sich auch bei Bundestagswahlen stärker föderalisiert? Auch die dritte sehr weitgehende Option, Direktmandate mit Zweitstimmendeckung auch unterhalb von 5-Prozent zu garantieren, würde das Reformprinzip der Ampel konterkarieren, und erneut dazu führen, dass Verhältniswahlergebnis aller Wähler durch einzelne Wahlkreisergebnisse zu verzerren. Auch davon würde ich abraten.
Wolfgang Schäuble hat nun besonders harte Kritik geübt. Dabei hat er selbst ja lange für eine Wahlrechtsreform gekämpft. Hat er Recht?
Wahlrecht ist immer auch eine Machtfrage. Die Härte der Auseinandersetzung ist deshalb auch nichts Ungewöhnliches. Die Parteien sind unterschiedlich und haben deshalb auch unterschiedliche wahlrechtliche Interessen. Schon im Parlamentarischen Rat wurde erbittert über das Wahlrecht gestritten. Teile der Union befürchteten damals „Weimarer Verhältnisse“ und „Anarchie statt Demokratie“, als gegen ihren Willen die Personalisierte Verhältniswahl eingeführt wurde. Wie war damals also genau gegen das, was sie nun verteidigen möchte. Wahrscheinlich auch, weil sie mit einem Wahlrecht, das sie erbittert bekämpft hatte, zu einer der beiden großen und staatsprägenden Volksparteien der Nachkriegsgeschichte wurde.
Das sagt noch nichts über die Kritik von Wolfgang Schäuble.
Seine Kritik finde ich in der Form und Heftigkeit stark überzogen. Zu behaupten, die Ampelreform sei „auf Täuschung und Enttäuschung des Wählers“ angelegt, ist einfach unangemessen. Ich frage mich, ob da nicht eine tief sitzende Enttäuschung über das Scheitern der eigenen Reformversuche den Ton etwas verzerrt hat. Ich fand das jedenfalls schade, und hätte mir hier etwas mehr Sachlichkeit und Fairness gewünscht.
Wie lässt sich das alles jetzt noch retten?
Ich bin Wahlrechtsexperte, kein Kommunikationsberater. Und gerettet werden muss vor allem die Kommunikation der Reform, nicht ihre Substanz – die stimmt! Am besten wäre es, die Parteien setzen sich noch einmal zusammen und finden zumindest in der Nachbereitung der Reform einen Konsens. Für die Union wäre das aus meiner Sicht ihre wahlrechtliche Absicherung als Wahlbündnis mit Parteieigenschaft, was der ohnehin seit mehr als 70 Jahren eingeübten und erfolgreichen Praxis der Unionsparteien bei Bundestagswahlen entspricht.
Schadet der jetzt ausgefochtene Kampf um das Wahlrecht unserer Demokratie?
Nein, das sehe ich nicht so. Streit gehört zur Demokratie, auch über ihre Regeln, die sie sich selbst gibt. Warum sollte ausgerechnet das nicht umstritten sein dürfen. Eine weitgehend konsensuale Wahlrechtsreform hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bislang nur einmal gegeben. Dabei haben die beteiligten Parteien sich dann zu ihrem gegenseitigen Wohl auf die unkontrollierte Vergrößerung des Bundestages verständigt. Und von amerikanischen Verhältnissen sind wir in Deutschland weit entfernt. Auch dass gegen eine Wahlrechtsreform vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt wird, ist eher der Normalfall als die Ausnahme. Und eine solche Klage der Opposition ist kein demokratischer Makel, sondern ein Zeichen funktionierender Regierungskontrolle. Kritisch würde es erst, wenn Urteile des Verfassungsgerichtes nicht mehr akzeptiert würden. Davon sind wir aber – glücklicherweise – weit entfernt.