Analyse
Erscheinungsdatum: 25. September 2024

Der Abgang der Grünen-Spitze: Was das in der Partei auslöst

Drei Tage nach der vorerst letzten und bittersten grünen Wahlniederlage haben Ricarda Lang und Omid Nouripour angekündigt, dass der Bundesvorstand gesammelt aufhört. Aus Partei und Fraktion dringen Respekt, Bewunderung – und Forderungen.

Kameraauslöser klackern, die weiße Tür zum Pressesaal schwingt auf. Selten kommen so viele Journalistinnen in die Parteizentrale der Grünen; am Mittwochvormittag aber spüren alle, dass es um Großes gehen muss. Eine Stunde vor dem auf 10.30 Uhr angesetzten Pressestatement laden die Grünen ein. Eine Besonderheit, normalerweise gehen Einladungen mit mehr Vorlauf raus. Offiziell will niemand in der Geschäftsstelle sagen, worum es gehen wird. Dann kommt die Nachricht: der gesamte Bundesvorstand wird zurücktreten.

Getragener als sonst schreiten Ricarda Lang und Omid Nouripour vor die Mikros. Kein Witz, keine Blödelei begleitet ihren Auftritt. Omid Nouripour beginnt zu sprechen, seine Co-Chefin schaut immer wieder zu ihm als wolle sie sich ein kleines bisschen am ihm festhalten. „Es ist notwendig und es ist möglich, diese Krise zu überwinden“, sagt Nouripour. Dabei gehe es nicht um das Schicksal einer Person allein. „Wir haben heute im Bundesvorstand entschieden: Es ist Zeit, die Geschicke dieser großartigen Partei in neue Hände zu legen." Deshalb bitte er „unsere geliebte Partei, auf dem anstehenden Parteitag in Wiesbaden einen neuen Vorstand zu wählen“.

Ricarda Lang übernimmt, und jetzt lässt Nouripour sie nicht aus den Augen. „Es braucht neue Gesichter, um die Partei aus dieser Krise zu führen“, begründet Lang ihrer beider Rückzug. „Sie können sich vorstellen, dass uns diese Entscheidung nicht leicht fällt. Aber wir treffen sie aus Überzeugung.“ Sie könne ein Baustein sein für die strategische Neuaufstellung der Grünen. „Jetzt ist nicht die Zeit, um am eigenen Stuhl zu kleben“, sagt Lang. „Jetzt ist die Zeit, Verantwortung zu übernehmen.“ Eine Geste, der später nicht nur viele Grünen großen Respekt zollen „Es war mir, es war uns eine große Ehre, dieser Partei zu dienen“, sagt Lang. Dann ist Schluss, beide schauen sich noch einen Moment in die Augen, ehe sie abtreten. Fragen sind nicht zugelassen. Drei Minuten dauert das Ganze, bis sich die beiden sich nach gut zweieinhalb Jahren in ihre letzten sieben Wochen an der Parteispitze verabschieden.

In der Fraktion erfahren viele erst parallel mit dem Rest der Welt davon, dass der sechsköpfige Bundesvorstand zurücktreten wird. Der Schritt überrascht und überfordert viele. Die Fraktionsspitze informiert kurz nach Beginn des Pressestatements ihre Mitglieder darüber, mit warmen Worten. Der Fraktion kommt vorerst die Rolle eines Ankers zu. Wenn schon in der Partei viel Aufregung und Unruhe ist, muss wenigstens die Fraktion jetzt Ruhe ausstrahlen. So wünschen sich das die beiden Frauen an der Spitze, Britta Haßelmann und Katharina Dröge. Sie wollen und müssen den Schock abfedern. Dabei hilft ihnen, dass alles, was in den nächsten Wochen relevant ist, im Bundestag verhandelt wird. Der Haushalt, das Sicherheitspaket, die Rente. Das müssen jetzt die Parlamentarier machen. Aus Sicht der Fraktionsspitze ist der Schritt der Parteispitze deshalb fürs Erste keine Schwächung der Grünen. Allerdings vermengen sich da Sicherheit und Selbstbeschwörung. Man will jetzt funktionieren und sich selbst disziplinieren. Damit nicht noch mehr wegbricht als die Parteispitze.

Entsprechend kennen die Kommentare auch nur eine Botschaft: Lob für die, die gehen. „Großen Respekt (...), in schwierigen Zeiten habt ihr Verantwortung übernommen“, twittert etwa die außenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Debbie Düring. Die innenpolitische Sprecherin Lamya Kaddor lobte den Schritt als mutig und verantwortungsvoll „und ein erster Schritt für einen Neuanfang“. Katrin Göring-Eckardt bedankt sich beim Spitzenduo und ergänzt: „Ihr erweist dem Land einen echten Dienst. Ihr macht, was für die Partei jetzt das Beste ist. Ihr stellt Persönliches zurück. Das ist wahre Größe.“ Der parlamentarische Geschäftsführer Till Steffen appelliert an die ganze Partei, dass es jetzt „an uns“ liege, die Chance zu nutzen. „So eine Entscheidung erfordert menschliche Größe“, twitterte Sachsens Fraktionsvorsitzende Franziska Schubert „Wir können uns nicht hinter dem Rücken von Robert Habeck verstecken. Wir müssen reformfähig- und willig sein. Sonst wird das nix.“

In der Fraktion macht sich am Mittwochvormittag Entsetzen breit, dazu Bewunderung, auch Trauer, und bei Einzelnen sogar Wut. Lang und Nouripour waren lange Zeit beliebte Vorsitzende, die gut zusammengearbeitet haben. Beide haben einen pragmatischen Ansatz verfolgt, haben ihrer Partei über weite Strecken erfolgreich die vielen schmerzhaften Kompromisse der Regierungsarbeit vermittelt. Und sie haben einander gestärkt.

Dass einige Grüne den Bundesvorstand kritisch sehen, ist nicht neu. Nach der Europawahl entlud sich der Frust vor allem über der Politischen Geschäftsführerin Emily Büning. Nach den Wahlniederlagen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stand der ganze Vorstand im Feuer. Die Vorsitzenden hätten sich nicht genug engagiert in den Ländern, hieß es, nicht genug zugehört und zu wenig verstanden. Auch Langs Bemerkung über die mangelnde Bedeutung der Migrationspolitik haben einige als nicht hilfreich empfunden.

Über den Sommer hinweg haben Grüne auf verschiedenen Ebenen viele Analysen und Ideen erarbeitet, was falsch lief und was helfen könnte. Einige Fehler, so der mitunter recht mangelhafte Auftritt auf Social Media, sind verstanden worden. Und doch war klar, dass sich bis Brandenburg kein Aufwärts-Effekt erringen ließ. An anderen Stellen neigten viele Grüne weiterhin dazu, die Schuld außerhalb der eigenen Reihen zu suchen, zeichneten ein Bild der vermeintlich ungerechten Behandlung und stellten sich melancholisch vor dieses Narrativ, das vieles einfacher zu machen schien. Weil eben die anderen die Verantwortung tragen.

Eine noch härtere Analyse drängte sich nach dem letzten bitteren Wahlausgang des Jahres auf. Aus der Regierung heraus aus dem Landtag zu fliegen, führte den Grünen vor Augen, dass es jetzt ernst wird. Neue Lösungen aber fehlten dem Bundesvorstand in den Beratungen nach Brandenburg, obwohl immer offensichtlicher wurde, dass ebendiese neuen Lösungen immer nötiger werden. Eine gemeinsame Überzeugung schälte sich heraus: Es braucht einen Bruch des negativen Trends. Nötig ist ein Momentum, um aus dieser tiefen Krise wieder rauszukommen. Im besten Fall einen Aufbruch mit einer positiven Geschichte.

Einzelne Rücktritte unbeliebter Ministerinnen wie Lisa Paus hätten nicht genügt. Auch kein Rücktritt von Emily Büning. Trotz massiver Kritik an Büning war vielen in der Führung klar, dass sie allein nur als „Bauern-Opfer“ wahrgenommen worden wäre. Ihr alleiniger Rauswurf wäre weder besonders fair noch zielführend gewesen. Und so kam dem Bundesvorstand schlussendlich zu dem Ergebnis, sich selbst auszuwechseln. Als Symbol für Neues, für neue Energie. Emily Büning bleibt zum Abschied nur noch die Vorbereitung ihres letzten Parteitags Mitte November, nach zwölf Jahren in grünen Ämtern.

Aus der Partei ist aus verschiedenen Ebenen viel Respekt für den Schritt zu hören. Allerdings begleitet von der Forderung, dass ein neuer Vorstand allein nicht genüge. Auch die Strategie für die Partei und ihren Wahlkampf 2025 müsse grundlegend neu aufstellt werden, und zwar unter Mitnahme der ganzen Partei, ist zu hören. Es funktioniere nicht, wenn künftig bloß Habecks Leute vorgäben, wo es langgehen soll . Wohl auch eine Reaktion auf die Forderung von Habecks Wahlkampfmanagerin Franziska Brantner nach „maximaler Autorität“ im Wahlkampf. Sie wird nun als mögliche Co-Parteichefin gehandelt.

Aus der Fraktion ist zu hören, Brantner sei nach innen extrem stark, ein „Arbeitstier“, eine Strategin. Ihre Schwäche sei das Rhetorische; die stärkste Rednerin sei Brantner nicht. Als rhetorisch stark gelten dagegen zwei andere Namen, die jetzt im Gespräch für die Doppelspitze sind: Felix Banaszak und Andreas Audretsch. Die beiden könnten als studierte Soziologen und Politikwissenschaftler gleichwohl nicht unbedingt ein anderes Narrativ bedienen als der scheidende Vorstand. Allerdings warnen so gut wie alle, schon jetzt irgendwelche Vorentscheidungen beim Personal zu verkünden. Das sei gegenüber dem Gros der Grünen unfair, unlogisch und vollkommen unangemessen. Nach einem derartigen Erdbeben könne die Nachfolge auf keinen Fall derart schnell geklärt werden.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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