Natürlich hat die Bundesregierung am Tag danach keinen großen Streit vom Zaun gebrochen. Das Bemühen, den Graben zu Paris nicht zu groß werden zu lassen, war unübersehbar. Macron habe keine „boots on the ground“ gefordert, sondern ebendiese lediglich nicht ausgeschlossen. Er habe selbstverständlich zu Recht für mehr Hilfe an die Ukraine getrommelt und außerdem (noch viel mehr zu Recht!) endlich auch mehr französischen Einsatz versprochen. Berlin weiß, wie wichtig, ja zentral die Achse nach Paris ist. Also ist Berlin am Dienstag sehr klar und zugleich sehr freundlich geblieben.
Besonders gut studieren konnte man das am Dienstag am Kanzler persönlich. In Freiburg, beim Spatenstich für einen neuen Stadtteil, war es Scholz wichtig, noch einmal klarzustellen, „dass es keine Bodentruppen, keine Soldaten auf ukrainischem Boden geben wird, die von europäischen Staaten oder von NATO-Staaten dorthin geschickt werden.“ Ja, der Kanzler wurde sogar noch deutlicher und betonte, dass man strikt darauf achten werde, „dass sich auch die Soldaten, die in unseren Ländern tätig sind, nicht selber aktiv an dem Kriegsgeschehen beteiligen“.
In Paris mag man das als Affront empfunden haben. Scholz darf sich dabei aber breiter Rückendeckung sicher sein, denn keiner der Gäste in Paris mochte Macrons Vorschlag etwas abgewinnen. Ansonsten freilich gab es aus dem Kanzleramt nur eine Botschaft: Trotz aller Baustellen sei auch der Montagabend ein Tag des „deutsch-französischen Schulterschlusses“ gewesen. Schön sollte das klingen und vertraut. Die Bundesregierung weiß ja nur zu genau, dass alles andere nur Wasser auf die Mühlen eines Wladimir Putin wäre.
Und doch: Die deutsch-französische Allianz, die sich 2002 unter Gerhard Schröder und Jaques Chirac gegen den Einmarsch in den Irak stemmte, ist längst Vergangenheit. So nötig eine militärisch-strategische Verständigung wäre – sie scheint derzeit kaum möglich. Zu unterschiedlich sind die historischen Erfahrungen der beiden Länder; zu unterschiedlich ist die Einbettung des Militärs in die jeweiligen Gesellschaften. Hier eine Parlamentsarmee, dort eine Armee mit der Fremdenlegion als schneller Eingreiftruppe, die der Präsident jederzeit und ohne weitere Begründung weltweit einsetzen kann.
Dazu kommen zwei grundverschiedene Temperamente, die aktuell die Geschicke der beiden Länder leiten. Der eine, Macron, lebt davon, immer wieder einen Stein ins Wasser zu werfen, um zu sehen, ob er nicht eine neue Welle auslesen kann, im besten Fall zum eigenen Nutzen. Er ist einer, der mit Ideen, Vorschlägen und Initiativen voranstürmt – auch auf die Gefahr hin, dass ihm niemand folgt. Der seine Wahl einst mit dem Versprechen gewonnen hatte, Frankreich „en marche“ zu setzen. Der lange ein Verbündeter Putins war und erst mit dem Überfall auf die Ukraine auf Distanz ging. Und der obendrein innenpolitisch massiv unter Druck steht und im Parlament keine Mehrheit hat.
Der andere, Scholz, ist von Natur aus bedächtig, neigt zur Vorsicht, wägt alles Denkbare mehrfach und steht Alleingängen grundsätzlich misstrauisch gegenüber, erst recht in Fragen von Krieg und Frieden. Dazu gehört spätestens seit 2021 eine Erzählung, an der er strikt und quasi bedingungslos festhält: dass er wegen seiner Ruhe, seiner Bedachtheit, seiner Zurückhaltung und Klarheit wegen Kanzler geworden sei. Außerdem wird Scholz niemals vergessen, dass die Russen im Zweiten Weltkrieg den höchsten Blutzoll von allen Kriegsteilnehmern bezahlt haben. Er weiß, dass es im Bundestag aktuell nie und nimmer eine Mehrheit für einen Kriegseintritt gäbe. Und er hat das nicht etwa für sich behalten, sondern Macron schon vor dem Montagstreffen dargelegt, was er von dessen Vorschlag hält – nämlich gar nichts.
Gleichwohl, so irritiert und besorgt das Kanzleramt am Dienstag reagierte – zu groß ist die Aufregung nicht gewesen. Und das könnte auch mit einem Kollateralnutzen zu tun haben. So lange die Öffentlichkeit mehr über Bodentruppen spekuliert, so lange rückt das für Scholz komplexere Thema Taurus in den Hintergrund. Los aber wird er die Debatte trotzdem nicht. Die Union fordert vehement die Übersendung von Taurus-Flugkörpern, ebenso Teile der FDP, allen voran Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
Damit rückt ein Aspekt in den Vordergrund, der bislang vor allem Experten beschäftigte: Was ist nötig, damit diese Waffen eingesetzt werden können? Scholz bleibt bei seiner Haltung: Ohne die Beteiligung von Bundeswehrsoldaten mache die Operation keinen Sinn. Begründung: Für die Ziel-Programmierung des Taurus seien umfangreiche Geländedaten nötig. Außerdem brauche die Bedienungsmannschaft präzise Kenntnisse des Vorgangs zur Zielauswahl sowie Geräte zur Programmierung. Soll die Ukraine alle nötigen Daten für den Einsatz bekommen? Und: Sollen Zielauswahl und -programmierung allein ukrainischen Soldaten überlassen werden? Antwort des Kanzleramts: Nein. Antwort der Opposition: Warum das Misstrauen? Man ahnt, dass die Debatte noch länger dauern dürfte.
Allerdings hilft Scholz, dass er seine Partei geschlossen hinter sich weiß. Auch wenn längst nicht alle seiner Meinung sind. Aber Kanzlerloyalität ist für die SPD zu einem Wert an sich geworden. Loyalität ist das eine Motiv, ein tief verankerter Antikriegsimpuls ein anderes. Fraktionschef Rolf Mützenich, der sein ganzes politisches Leben lang für Abrüstung und Friedensinitiativen gestritten hat, steht in dieser Frage sowieso hinter dem Kanzler.
Andere, wie Parteichef Lars Klingbeil oder der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Nils Schmid, mögen die Fragen von Taurus-Lieferungen anders sehen, halten sich aber zurück. Das Weitestgehende, was sich Schmid bisher erlaubte, war der Satz: „Wir müssen der Ukraine im Verbund unter die Arme greifen und alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Waffen und Munition zu liefern. Jetzt. Wenn die Ukraine verliert, werden die langfristigen Kosten sehr viel höher für ganz Europa sein.“
Immerhin, in Paris spielte die für Scholz unangenehme Taurus-Frage keine Rolle. Auch nicht unter dem Punkt, den Macron aufgerufen hatte: Wie könne die Ukraine „mehr und besser“ unterstützt werden? Es sei um Munitionsbeschaffung und Luftverteidigung gegangen, um Cyberabwehr und den Schutz der ukrainischen Nachbarstaaten – namentlich Moldau.
Hinter dem „Mehr und Besser“ stand letztlich die Frage, wie die Konsequenzen für die westlichen Ukraine-Unterstützer aussehen, sollte sich die Lage auf dem Gefechtsfeld „unglücklich entwickeln“, wie man in Berlin formuliert. Eines ist sicher: Macron hat für einen solchen Fall gerade eine Tür geöffnet. Scholz hat sie geschlossen.