Analyse
Erscheinungsdatum: 03. September 2023

Carsten Schneider: „Manchmal ist der urdeutsche Nachbar das viel größere Problem"

Staatsministers Carsten Schneider besucht anlässlich seiner Pressereise die Technische Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) zum Thema „Strukturwandel der Lausitz/Lausitz Science Park”. 
Cottbus-Senftenberg, Brandenburg, 30. August 2023


Credit: Bundeskanzleramt / bundesfoto / Christina Czybik
Unmittelbar nach der Klausur in Meseberg ist Staatsminister Carsten Schneider (SPD) bemüht, die politische Erregung herunterzukochen. Der Ost-Beauftragte der Bundesregierung glaubt, dass die AfD ihren Zenit überschritten hat. Er rechnet aber mit einer hohen Politisierung und einer hohen Wahlbeteiligung bei den drei Landtagswahlen im Osten im kommenden Jahr.

Die Kabinettsklausur in Meseberg sollte die zweite Hälfte der Legislaturperiode einläuten. Wie fasst die Koalition wieder Tritt?

Indem sie die Spannungen, die es zwischen einzelnen Beteiligten gegeben hat, überwindet und die Sache in den Vordergrund stellt, nämlich die größte Volkswirtschaft Europas ordentlich zu regieren.

Hat die Klausur dabei geholfen?

Wir haben einige wichtige Entscheidungen getroffen: Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, wir haben im Datensicherheitsbereich einiges vorangebracht, das BND-Gesetz. Auch mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht und dem Einwanderungsgesetz modernisieren wir das Land. Der Ruf der Koalition ist nicht so gut wie ihre tatsächliche Arbeit; so wie die Stimmung im Land auch schlechter ist als die tatsächliche Situation. Wir müssen mit der nötigen Ernsthaftigkeit arbeiten und dürfen keine Diskussionen mehr führen, die außerhalb von Berlin niemanden interessieren und nur verunsichern. Nur dann gelingt es, jenes Vertrauen zurückzugewinnen, das in Teilen verloren gegangen ist.

Meseberg sollte dazu ja auch klimatisch einen Beitrag dazu leisten. Ist das Teambuilding gelungen?

Wir waren zwei Tage zusammen, man kennt sich aber ja auch schon länger. Meistens wird nichts so heiß gegessen, wie es vorher gekocht wird. Es sind normale Arbeitsbeziehungen, da geht mal was hoch, und dann ist auch wieder gut. Einzelne öffentliche Äußerungen darf man dabei nicht überbewerten.

Der FDP-Generalsekretär hat sofort am Morgen nach Meseberg angekündigt, dass jetzt erst mal Schluss sei mit Sozialreformen. War das besprochen in der Koalition, oder war das bereits der nächste Alleingang?

Ich weiß gar nicht, was das inhaltlich bedeuten soll. Wir haben alle maßgeblichen sozialpolitischen Vorhaben, im Koalitionsvertrag festgehalten und bereits angepackt. Jetzt müssen die Beschlüsse auch erstmal wirken. Mit der Umsetzung der Erleichterungen beim Fachkräftezuzug und der Stärkung der Tarifbindung werden wir die wirtschaftliche und soziale Basis unseres Wohlstandes sichern.

Sie haben das Klimageld vergessen.

Das war in Meseberg kein Thema.

Die FDP will auch die Atomkraft reaktivieren.

Dazu hat der Bundeskanzler das Notwendige gesagt.

Warum haben Verabredungen in dieser Koalition eine solch kurze Halbwertszeit?

Die SPD ist vertragstreu und steht zu allen Zusagen, die sie gemacht hat.

Dass die SPD ihren Kanzler stützt, ist ja nun keine Überraschung.

Ich kann ja nicht für andere sprechen.

Das Image dieser Koalition korreliert mit einem rasanten Aufstieg der AfD im Osten.

Das hat unterschiedliche Gründe. Ja, es gibt eine in Teilen gefestigte AfD-Wählerschaft. Dazu kommt im Osten ein schon immer größeres Potenzial an Wechsel- und Protestwählern. Von denen haben einige eine zeitlang die Linkspartei gewählt und sind jetzt teilweise bei der AfD. Die nutzt ihre vielen Mandate im Europaparlament und in den Landtagen, um sich strukturell auszubreiten. Sie versucht, die Gesellschaft immer weiter zu durchdringen.

Gibt es einen spezifischen Nährboden für diese Durchdringung?

Es gibt die AfD im Westen wie im Osten. Sie ist im Osten anteilig stärker; aber die bundesweiten Umfrageergebnisse beruhen ja nicht nur auf Ost-Wählern. Dafür ist der Osten zu klein. Ja, sie ist in manchen Regionen, auf dem Land und in Kleinstädten, inzwischen stärkste Partei. Und es gibt eine Korrelation zu den wirtschaftlichen Chancen und auch zum Gefühl, abgehängt zu sein. Entscheidend ist die Perspektive, dass es besser wird.

Die These stimmt nicht ganz: Das südliche Thüringen steht nicht schlecht da, was Jobs angeht – und trotzdem bekam der AfD-Kandidat bei der Landratswahl in Sonneberg über 50 Prozent.

Das stimmt – aber nicht für die Löhne. Die sind nämlich sehr niedrig. Außerdem hat das Ergebnis im kleinsten Landkreis Thüringens eine sehr lokale Komponente. Die AfD hat sich dort auch aufgrund der Schwäche der CDU, die dort über Jahre die dominierende Kraft war, breit gemacht. Dann hat sie Hans-Georg Maaßen zum Bundestagskandidaten aufgestellt. Damit hat sie die Themen der AfD, die Vorurteile und Ängste vor Veränderung hof- und salonfähig gemacht. Das ist jetzt das Ergebnis.

Das ist nicht nur ein CDU-Phänomen. Auch in SPD-regierten Ostländern ist ein Gefühl von Demütigung verbreitet.

Dieses Gefühl des Abgehängt- und Verlassenseins gibt es einfach. Ich teile es nicht; aber ich nehme es wahr. Ich versuche ja, dagegen anzugehen. Man kann schließlich nicht die ganze Zeit mit gesenktem Haupt und schlechter Laune durch den Tag gehen.

Ist es eher ein Gefühl der Vernachlässigung oder gibt es konkrete Defizite?

Es gibt ein mangelndes Interesse des Westens am Osten. Es gibt in vielen Bereichen Unverständnis, auch Unkenntnis, für viele im Westen ist der Osten terra incognita. Und ein bisschen sind wir auch Fußabtreter. Den Rechtsextremismus gibt es überall, aber immer wird der Osten erwähnt. Berichte über den Osten sind gerne verallgemeinernd und meistens negativ. Das wird den Menschen, die nach der Wende mit dem Rücken an der Wand standen und sich einmal komplett gedreht haben, nicht gerecht. Aber es erklärt die Verbitterung.

Ist dieses Minderwertigkeitsgefühl denn berechtigt?

Fakt ist: Die Löhne sind nach wie vor ungleich – für mich immer noch der Hauptschlüssel für die Frustration. Auch den Rentnern ist immer eingeredet worden, sie würden schlecht behandelt: Das Gegenteil ist der Fall. Menschen, die zur Wendezeit Rentner waren, sind die Gewinner der deutschen Einheit. Schwierig ist es für die, die damals im Berufsleben standen, teilweise mehrfach komplett neu angefangen haben, für Niedriglöhne arbeiten mussten und jetzt eine niedrige Rente beziehen.

Also ist dieses Gefühl unbegründet?

Nein, aber natürlich ist die Lage differenzierter. Ich werbe dafür, die Realität zu betrachten. Natürlich ist nicht alles eitel Sonnenschein; aber es ist verdammt viel geschafft worden. Und wir müssen jetzt den Dreh hinbekommen, auch wieder junge Leute anzuziehen. Nicht zuletzt, weil viele von ihnen gegangen und ihre Eltern zurückgeblieben sind. Daraus ergibt sich keine Aufbruchstimmung. Um das wieder zu erzeugen, müssen Leute zu uns kommen, die das Gefühl haben, es geht was. Es darf deshalb nicht Totentanz im Ort sein, sondern es muss Nahverkehr, Treffpunkte, Kita und Schule geben. Hier eine Balance zu finden, hängt auch an den Menschen vor Ort selber, wie offen sie sind, und an den Kommunalpolitikern, von denen sich viele sehr bemühen und die wir unterstützen müssen. Das ist auch konkrete Demokratie: Die Menschen wählen sich ja ihre Vertreter und nehmen Einfluss.

In Leipzig und Dresden ist Zuwanderung kein Problem. Aber wie geht man damit in den kleinen und Mittelstädten um?

Das stimmt. Die Unterzentren brauchen hier mehr Unterstützung. In den großen Städten gibt es eine höhere Quote von Migranten. Vorurteile gibt es nur, wenn man sich kein Urteil bilden kann. Wenn man niemanden hat aus anderen Regionen, mit denen man bei der Arbeit zu tun hat, der einem hilft, mit dem man ein Bier trinken kann und Fußball spielen. Oft sagen mir Leute, wie blöd war ich früher mit meinen Vorurteilen. Das geht nur übers Erleben, aber da sind wir meines Erachtens auf einem guten Weg.

Das Image des Ostens ist noch ein anderes.

Es gab Zeiten, da lag der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund im Schnitt bei zwei Prozent. Man hatte quasi keine Berührungspunkte, außer mit dem türkischen Dönerverkäufer und dem Italiener aus der Pizzeria. Da ist viel mehr passiert, als wir oft wahrnehmen, es gab eine Entwicklung auch durch die EU-Migration. Was stimmt: Es gibt überall bei der politischen Rechten, ich sehe das auch in Osteuropa, unfassbare Vorurteile gegenüber Menschen mit muslimischem Glauben.

Trotz aller Integrationsfortschritte liegt die AfD in Thüringen bei 25 Prozent, in Sachsen bei über 30 Prozent, in der Breite ist das nicht angekommen.

Doch! Ja, es ist eine starke Minderheit, die die AfD wählt; aber es ist immer noch eine Minderheit.

Die immer noch wächst.

Ich glaube, dass die ausmobilisiert sind. Natürlich gibt es auch Leute, die für eine nationalistische Politik voller Ressentiments offen sind. Die gab es immer, die gibt es auch in Frankreich, und ich versuche, mit gesundem Menschenverstand und Begegnungen die vielen Menschen abzuholen, die Migranten nicht für das Problem halten. Manchmal ist der urdeutsche, gewalttätige Nachbar das viel größere Problem.

Drei Landtagswahlen im Osten im kommenden Jahr – worauf steuern wir da zu?

Das werden hochpolitische Wahlen werden. Es wird eine hochpolitisierte Öffentlichkeit geben, mit entsprechender Berichterstattung, die mutmaßlich in einer hohen Wahlbeteiligung münden wird.

Wobei zuletzt in Thüringen von einer hohen Wahlbeteiligung vor allem die AfD profitiert hat.

Richtig. Viele Leute aus dem Nichtwählerlager haben AfD gewählt. Es war aber auch in großen Teilen eine Trotzreaktion nach dem Motto, wir lassen uns doch hier nicht vorschreiben, wen wir zu wählen haben. Man wusste, wenn ich den AfD-Kandidaten wähle, werden sich alle aufregen.

Mehr Trotz als Überzeugung?

Es gibt natürlich auch feste, harte Rechte. Aber diese Reaktion von Sonneberg nennen wir in Thüringen Gnatz – das heißt, nee, jetzt erst recht. Übersetzt: Eigentlich wollte ich das nicht unbedingt – aber jetzt zeig' ich es denen mal.

Angenommen Sie haben recht: Was heißt das für die mediale Berichterstattung im nächsten Jahr?

Ich würde seriös und sachlich berichten und dabei allen das Wort geben. Ich würde Brot-und-Butter-Themen – Inflation, Lohnentwicklung und die Fachkräftesituation – Raum geben, zugleich aber die Menschen, die etwas machen und anpacken, in den Mittelpunkt stellen. Davon gibt es sehr viele, denn sonst stünde das Land nicht da, wo es steht. Natürlich sollte auch darauf hingewiesen, dass die Wahl der AfD Konsequenzen hat. Nur belehrend sollte es möglichst nicht sein.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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