In der Politik ist es zuweilen wie im richtigen Leben: Nicht alles, was auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, bleibt auch nach näherer Betrachtung schlüssig. Seit sich die Spekulationen immer mehr verdichten, wonach Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Herbst bei der Landtagswahl in Hessen als SPD-Spitzenkandidatin antritt, sind sofort zwei Fragen aufgetaucht. Kann Faeser den Wahlkampf in Hessen als Bundesinnenministerin führen oder ist dieses Ressort zu wichtig, um es quasi nebenher zu leiten? Und muss sich Faeser im Falle ihrer Kandidatur nicht klipp und klar dazu bekennen, dass sie dann auch in jedem Fall in Hessen bleiben wird?
Auf den ersten Blick klingen beide Fragen einleuchtend. Das Innenministerium mit seinen nachgeordneten Behörden ist kein x-beliebiges Ministerium, es ist für die Bewältigung ganz unterschiedlicher Krisensituationen zuständig, ganz egal, ob es um Terrorakte oder Terrorpläne, größere Naturkatastrophen oder den Umgang mit geflüchteten Menschen geht. Und ist nicht auch eine Kandidatur, die im Verdacht steht, womöglich nur mit halbem Herzen betrieben zu werden, tatsächlich ein Problem?
Trotzdem ist es merkwürdig, dass diese Fragen im Falle Faesers mit solcher Verve diskutiert werden. Zum einen ist das Innenministerium für seine komplexen Aufgaben an der Spitze besonders breit aufgestellt. Es verfügt über insgesamt sieben Staatssekretärinnen und Staatssekretäre, vier beamtete und drei parlamentarische. Nur das Wirtschaftsministerium von Robert Habec k kommt auf die gleiche Zahl. Schwer vorstellbar, dass das Haus bei einem unvorhergesehen Ereignis aus der Balance geraten würde, weil die Ministerin zur gleichen Zeit eine Wahlkampfrede in Kassel hält.
Zum anderen aber, und das ist noch wichtiger, ist es in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder vorgekommen, dass Politiker als Spitzenkandidaten angetreten sind, die woanders ein wichtiges Amt bekleidet haben. Von Willy Brandt über Franz Josef Strauß, Gerhard Schröder, Edmund Stoiber und Armin Laschet haben Leute um das Kanzleramt gekämpft, die gleichzeitig als Ministerpräsidenten oder, im Falle Brandts, als Regierender Bürgermeister ihr Bundesland regiert haben. Und weder Angela Merkel, noch ihre männlichen Vorgänger sind je gefragt worden, ob sie während eines strapaziösen Wahlkampfs eigentlich ihr Amt noch mit voller Kraft ausfüllen können.
Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Frage. Auch hier gibt es kein einheitliches Muster. Willy Brandt ist gleich zweimal, 1961 und 1965, als Wahlverlierer bei der Bundestagswahl in sein Amt als Regierender Bürgermeister nach Berlin zurückgekehrt, erst beim dritten Anlauf 1969 hat es mit der Kanzlerschaft geklappt. Bei Franz Josef Strauß wäre es geradezu grotesk gewesen, wenn er 1980 nach seiner Niederlage als Kanzlerkandidat gegen Helmut Schmidt auf die Bonner Oppositionsbank zurückgekehrt wäre, er hatte sie schließlich erst zwei Jahre zuvor verlassen, um in Bayern Ministerpräsident zu werden. Und auch Edmund Stoiber hat keine Sekunde daran gedacht, als Oppositionsführer nach Berlin zu wechseln, falls er die Wahl gegen Gerhard Schröder verliert. Im Gegenteil, Stoiber hatte noch kurz vor der Wahl mit Angela Merkel verabredet, dass sie nach der Wahl die Fraktion führen soll. Und damit Friedrich Merz aus dem Amt drängt, was der bis heute nicht verwunden hat.
Armin Laschet hingegen musste lange gegen die Spekulation kämpfen, er halte sich die Rückkehr nach Düsseldorf offen, weil er die Neuwahl des CDU-Landesvorsitzenden raffiniert auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben hatte. Laschet war schließlich zu der Klarstellung gezwungen, er sei ohne Rückfahrticket unterwegs. Und Norbert Röttgen musste 2012 als CDU-Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen einen hohen Preis dafür zahlen, dass er offengelassen hatte, ob er bei jedem Wahlausgang nach Düsseldorf geht. Nach seiner Niederlage gegen Hannelore Kraft hat ihn Angela Merkel als Umweltminister entlassen.
Es gibt also keinen Automatismus, was Spitzenkandidaten tun, lassen oder erklären müssen. Das gilt auch für Nancy Faeser.