Einzelne Landesministerinnen, Parteibasis und Abgeordnete der Grünen haben schon Anfang vergangener Woche deutlich gemacht, dass sie den Asylkompromiss der EU ablehnen. Am Donnerstag haben die Mitgliedsstaaten sich unter Beteiligung der Bundesregierung auf den Beschluss geeinigt, der unter anderem ermöglicht, dass Asylverfahren künftig an EU-Außengrenzen erfolgen sollen und, dass mehr Herkunftsländer als sicher eingeordnet werden. Seitdem äußern grüne Gegnerinnen und Gegner nicht mehr bloß besorgte Appelle. Parteimitglieder aller Ebenen tragen Widerspruch, Enttäuschung, oft Wut auf Twitter, in Nachrichtensendungen und Zeitungsartikel. Die Parteispitze widerspricht einander ebenso wie die Fraktionsspitze, das eine grüne Kabinettsmitglied den anderen.
Annalena Baerbock verteidigte den Asylkompromiss am Freitagabend per Brief an die Parteimitglieder: „Kein Kompromiss hätte bedeutet, dass gar keine Geflüchteten mehr verteilt werden.“ Auch Robert Habeck warb um Verständnis: „Ich habe hohe Achtung vor denen, die aus humanitären Gründen zu anderen Bewertungen kommen“, sagte er zwar der dpa. Aber: „Ich hoffe, sie sehen auch, dass es Gründe gibt, dieses Ergebnis anzuerkennen.“
Anders sieht das die Bundesfamilienministerin. „Leider war die pauschale Ausnahme für Kinder sowie ihre Familienangehörigen im Rahmen der Verhandlungen mit den anderen Mitgliedstaaten nicht zu erreichen“, sagte Lisa Paus der dpa. „Der gefundene Kompromiss ist für mich daher sehr problematisch.“
Omid Nouripour twitterte am Donnerstag, dem Tag der Entscheidung, dass die Partei gemeinsam gekämpft hätten, aber mit Blick auf die Entscheidung „zu unterschiedlichen Bewertungen“ kämen. Er komme in der Gesamtschau zu dem Schluss, „dass die heutige Zustimmung ein notwendiger Schritt ist, um in Europa gemeinsam voranzugehen.“
Am selben Tag, aber ganz anders äußerte sich Co-Parteichefin Ricarda Lang auf Twitter: Der Vorschlag werde „dem Leid an den Außengrenzen nicht gerecht und schafft nicht wirklich mehr Ordnung.“
Auch die Fraktionsspitze demonstriert ihre Uneinigkeit öffentlich. Katharina Dröge äußerte am Donnerstag auf Twitter: „Der Geas Reform hätte Deutschland im Rat heute aber nicht zustimmen sollen“. Britta Haßelmann schrieb am selben Tag, dass „ein Scheitern einer GEAS-Reform“ aus europapolitischer Perspektive „ein schlechtes Signal“ wäre.
Fraktions-Vizechefin Agnieszka Brugger wiederum kritisierte den Deal, „der auf Abschottung und Abschreckung“ setze.
„Ein schwarzer Tag für Europa“, urteilte Berîvan Aymaz, Vizepräsidentin des nordrhein-westfälischen Landtags. „Ein menschenrechtlicher Tabubruch!“
Ähnlich äußerte sich Aminata Touré, Umweltministerin in Schleswig-Holstein: „Die Zustimmung der Bundesregierung ist nicht mit der Position der Partei und nicht einmal dem Koalitionsvertrag vereinbar.“ Ein prominenter Grüner am anderen Ende der Republik kommt zu einem anderen Urteil. Winfried Kretschmann, so berichtet es die FAZ, kommentierte: „Eine Nichteinigung hätte zur Handlungsunfähigkeit der EU in diesen belasteten Zeiten und bei diesem schwierigen Thema geführt.“
Grüner Protest flutete am Tag nach der Entscheidung sämtliche Foren. „Menschenrechte sind nicht verhandelbar!“, schrieb die EU-Abgeordnete Anna Cavazzini aus Sachsen. Sie lehne die Einigung „entschieden ab“.
MdB Julian Pahlke twitterte am Freitag: „Heute ist vielleicht der bitterste Tag meines politischen Lebens“, bezeichnete den Beschluss als Desaster. MdB Kassem Taher Saleh sieht in der Reform „eine Bankrotterklärung“, twitterte: „Viele Menschen sind enttäuscht – auch ich.“
MdB Max Lucks bezeichnete den Kompromiss als „untragbar“, MdB Filiz Polat sieht darin eine Gefährdung von „Europa als Wertegemeinschaft“.
MdB Erik Marquardt legte seit Donnerstag täglich Kritik nach. Auf Twitter und in den Tagesthemen. Mit den geplanten Maßnahmen verschärfe man Probleme, verteidige Chaos und Leid. „Ein wirklich trauriger Tag für die Asylpolitik“ sei es gewesen, sagte er am Freitagabend in den Tagesthemen.
„Ein riesen Fehler“ sei die Einigung, twitterte MdB Merle Spellerberg. Menschenrechte seien nicht verhandelbar.
Am deutlichsten äußerte sich die Grüne Jugend. „Mehr Leid. Mehr Elend. Mehr Gewalt. Keine einzige Verbesserung für Flüchtende. Wir sind wütend“, twitterten sie am Freitag. „Entsetzt und wütend“ seien sie über die Entscheidung, sagte ihr Bundessprecher Timon Dzienus dem Bericht aus Berlin.
Etwas ruhiger wurde es nur am Samstag, die Stimmen seltener. Am Sonntag legten viele und relevante Kritikerinnen nach. „Ich glaube, dass der Vorschlag dem Leid an den Außengrenzen nicht gerecht wird“, sagte Ricarda Lang dem Bericht aus Berlin, der am Sonntagabend erschienen ist. Verteidigende Stimmen waren nach der Einigung rar; fast nur von denen, die den Kompromiss selbst mit verantworten.