Mitte Februar gab sich der Bundesarbeitsminister selbstbewusst: „Wir haben der organisierten Ausbeutung in der Fleischindustrie ein Ende gesetzt“, sagte Hubertus Heil. Anlass war die Evaluation der gesetzlichen Neuregelungen von 2021. Damals hatten die menschenunwürdigen Zustände in der Branche im Zuge der Corona-Pandemie großes Aufsehen erregt. Im Zentrum der Novelle stand ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in drei Kernbereichen: Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung. Bei der Verarbeitung war Leiharbeit bis Ende März in begrenztem Rahmen noch möglich. Das Gesetz gilt zudem nur für Betriebe ab 50 Beschäftigten.
Dass schlechte Arbeitsbedingungen in der Branche fortbestehen, zeigte eine Recherche von Report Mainz im April 2023. Entlang der Grenze zu den Niederlanden habe sich „ein neues System der Leiharbeiter-Ausbeutung etabliert“, wodurch die Gesetzesverschärfungen ins Leere laufen würden. Demnach bringen ausländische Personalvermittler in angemieteten Immobilien in NRW Arbeiter unter, die in den Niederlanden tätig sind. Weil sie in Deutschland leben, hat wiederum der niederländische Arbeitsschutz keinen Zugriff.
Die Bundesregierung beobachte die Entwicklungen in der Region „aufmerksam“, so das BMAS auf Anfrage – für Kontrollen seien aber die Bundesländer zuständig. Martin Varga, Arbeitsmarktexperte beim DGB-Bundesvorstand, ist kritischer. Die hiesigen Verbesserungen bei der Einhaltung von Arbeitszeiten und im Arbeitsschutz erkennt er an. Der Fall an der Grenze zeige aber exemplarisch, dass in der EU mit ihrer Freizügigkeit rein nationale Kontrollsysteme „nicht funktionieren können“.
Er fordert eine grenzüberschreitende Kooperation unter dem Dach der 2019 gegründeten Europäischen Arbeitsbehörde (ELA). Bisher kann die Behörde mit Sitz in Bratislava nicht selbst die Initiative ergreifen, sondern nur koordinieren. Und das auch nur, wenn Mitgliedstaaten zusammen aktiv werden. Das will der DGB schrittweise ändern. Der Plan: Zunächst könnte die ELA Länder zu gemeinsamen Inspektionen verpflichten, später dann auch eigene anstoßen. Sie sollte auch das Recht haben, an nationalen Kontrollen als Beobachter teilzunehmen, so Varga – und Staaten zu sanktionieren, die notwendige Informationen nicht zur Verfügung stellen.
Der Experte spricht sich zudem für spezielle Einheiten für „ Hochrisikobranchen“ aus, in denen es immer wieder zu Verstößen kommt. Dazu gehören neben dem Bau und der Saisonarbeit auch Lkw-Transporte, wie die Streiks an der hessischen Raststätte Gräfenhausen gezeigt haben. „Es braucht ein Unternehmensregister für Arbeitgeber, die Rechtsverstöße begangen haben“, betont Varga. Schützen will er außerdem nicht nur EU-Bürger, sondern auch Drittstaatler.
Das BMAS ist offen dafür, das Mandat der ELA zu erweitern. Bei einer Konferenz in Berlin zum Thema „ Soziales Europa“ im Herbst 2023 äußerten sich neben Hubertus Heil auch seine Amtskolleginnen und -kollegen aus vier Ländern sowie EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit ähnlich. Die EU-Kommission hat den Auftrag, bis August zu prüfen, ob es eine Erweiterung des Mandats geben soll. Für eine abschließende Bewertung müssten die Ergebnisse dieser Evaluierung abgewartet werden, heißt es aus dem BMAS.
Bisher können Behörden über das von der Kommission entwickelte Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) zwar Informationen austauschen. Doch das 2008 gestartete Online-Tool hat noch Verbesserungspotenzial. Die EU plant selbst, den Zugang zeitnah zu vereinfachen und Sicherheitsstandards zu erhöhen. Mehr Datenaustausch und Digitalisierung mahnt auch der DGB an. Die ELA hat bisher selbst etwa keinen Zugang.
Dass sich das ändert, hat schon im Januar das Europaparlament gefordert. In seiner Entschließung ruft es die Kommission dazu auf, die ELA zu stärken. Es brauche mehr Zusammenarbeit mit Europol, Eurojust und der Europäischen Staatsanwaltschaft, um effektiver gegen organisierte Kriminalität – etwa im Bauwesen – sowie Subventionsbetrug vorzugehen.
Ebenso hält es eine bessere Koordinierung mit den Mitgliedstaaten und Sozialpartnern für nötig, um Arbeitnehmer und -geber über ihre Rechte und Pflichten zu informieren. Entscheidend sei auch ausreichend eigenes Personal für die ELA. Der bisher hohe Anteil an nur zeitweise abgeordneten nationalen Sachverständigen stelle „mittel- und langfristig ein erhebliches Hindernis für ihre Tätigkeiten“ dar.
Mehr Personal braucht es aus Sicht von Arbeitnehmervertretern auch für die Beratung von Arbeitnehmern in Herkunfts- und Zielstaaten – in ihren jeweiligen Sprachen. In Deutschland gibt es unter dem Namen „Faire Mobilität“ bereits ein von Staat und Gewerkschaften finanziertes Netzwerk von Stellen, europaweit noch nicht. Mit dem Ziel, ein solches aufzubauen, fordert der DGB im Rahmen der Europawahl eine eigenständige Haushaltslinie.
Ein weiterer Punkt, in dem Fachleute Verbesserungsbedarf sehen, sind Sozialversicherungsbeiträge. Im Herkunftsland werden sie oft nicht oder nicht vollständig abgeführt, sodass die Beschäftigten unzureichend abgesichert sind – obwohl sie laut Gesetz bis zu zwei Jahre dort versichert bleiben können. Die sogenannte A1-Entsendebescheinigung als Nachweis, dass man in der Heimat versichert ist, gilt schon länger als bürokratisch, fehler- und manipulationsanfällig.
Für deutsche Dienstreisende – dazu gehören etwa auch EU-Beamte – plant das BMAS im Rahmen seiner Digitalisierungsstrategie deshalb die Möglichkeit, das Ganze digital abzurufen. Ein von der EU-Kommission geplanter Europäischer Sozialversicherungsausweis lässt dagegen schon länger auf sich warten.
Varga vom DGB betont, dass im deutschen Arbeitsinspektionssystem auch abseits internationaler Fälle einiges im Argen liege. Extremfälle wie Tönnies und Gräfenhausen seien „nur die Spitze des Eisbergs“. Was er genau wie andere Fachleute bemängelt: Die Kompetenzen sind auf verschiedene Behörden verteilt, deren Kooperation je nach Bundesland unterschiedlich gut funktioniert. Einer der Akteure ist die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls, die auch die Einhaltung des Mindestlohns überwachen soll. Ein Problem aus Sicht von Betroffenen: Ihre Zuständigkeit umfasst ebenfalls die Kontrolle des Aufenthaltstitels von Arbeitern. Viele Rechtsverstöße von Unternehmen werden deshalb gar nicht erst angezeigt.