Rational gesehen müsste die Koalition bis zum Schluss weitermachen. Zu schlecht sind die Umfragen, zu gefährlich könnte für jeden Partner ein Ausstieg werden. Doch neben diese Betrachtung legt sich mehr und mehr eine Zweite: Sollte sich der negative Trend, in dem die Ampel seit Monaten steckt, immer weiter fortsetzen, könnten eine oder mehrere Ampelparteien zu dem Schluss kommen, dass ein Ende besser ist als ein Weiterschleppen. Christian Lindner deutete das schon an; aus der SPD sind ähnliche Gedanken zu hören. Dass der Kanzler plötzlich bei den EU-Zöllen wie beim Industriestrompreis mehr Kanten zeigt, gilt als Beleg dafür, dass auch er mehr ins Entweder-oder geht. Die Folge: Mehr Verve, mehr Misstrauen und sehr schnell mehr Überdruss. Vor dem Bündnis liegen Wochen, in denen es am Abgrund taumelt.
Da ist zum einen der Haushalt. Das Kabinett hat einen Entwurf beschlossen; der aber ist noch lange nicht durchs Parlament. Und aus den Fraktionen gibt es zum Teil erhebliche Änderungswünsche. Datum der Endabstimmung, Stand heute: der 29. November. Gibt es eine Mehrheit, geht es weiter – gibt es keine, ist die Koalition am Ende. Entweder durch eine verlorene Vertrauensabstimmung, die zu Neuwahlen führen würde. Oder durch den Rauswurf eines Partners. Dann müsste eine Minderheitsregierung mit einer vorläufigen Haushaltsführung ins neue Jahr starten. Gesetzliche Leistungen würden bezahlt, der Rest läge auf Eis. Einen ordentlichen Haushalt gäbe es erst, wenn eine neue Mehrheit einen Bundesetat beschließt.
Doch selbst wenn der Fall nicht eintritt: Es ist nicht die einzige Klippe. Mindestens zwei Themen haben das Potenzial zum politischen Sprengsatz: das Tariftreuegesetz und das Rentenpaket II. Die Sozialdemokraten wollen beides unbedingt, die Liberalen wollen beides so, wie es ist, auf keinen Fall. Die gesamte SPD-Führungsriege hat beide Themen als zwingend ausgegeben; die FDP hat der Koalition bis Weihnachten eine Frist gesetzt, um zur Vernunft zu kommen. Eine Vernunft, die aus FDP-Sicht nur heißen kann: weg damit! Entweder finden SPD und FDP also Kompromisse, wo solche kaum noch möglich erscheinen. Oder die FDP lehnt ab und die SPD sagt, was ihr die eigene Stimmungslage vorgibt: Jetzt ist Schluss.
Danach gäbe es mehrere Wege der Trennung. Szenario eins: Die FDP steigt aus, ihre Minister treten zurück, und das Ganze macht sie mit der Begründung: Wir müssen das Land von dieser Ampel befreien. Das erste Momentum könnte bei den Liberalen liegen, nach dem Motto: Wir stehen am Abgrund, aber wir beenden, was beendet werden muss. Szenario zwei: Olaf Scholz und die SPD kommen dem zuvor – und der Kanzler entlässt die FDP-Minister. Das geht zwar erst nach der Verabschiedung des Haushalts; dann aber ginge es – wenige Wochen vor Beginn eines Jahres, in dem nicht mehr viel beschlossen werden muss und sowieso gewählt wird.
Weil so was aber selten lange hält, kommt ganz leise der 2. März ins Spiel. In allen drei Koalitionsparteien schielen schon manche auf den Tag, an dem in Hamburg gewählt wird. Der Grund: So schlecht die drei Parteien in Umfragen auch dastehen – in Hamburg können alle drei noch auf ein passables bis gutes Ergebnis hoffen. Und das könnte ein starkes Motiv sein, sich mit Neuwahlen im Bund mindestens in die Wochen danach zu retten, um mit einem nach Hamburg vielleicht besseren Trend Richtung Neuwahl zu kommen.
Auch der Weg dorthin führt freilich über eine verlorene Vertrauensfrage. Im Bundespräsidialamt hat der Leiter des Referates Verfassung und Recht, Stefan Pieper, längst die einschlägigen Grundgesetzartikel vorgetragen und erläutert. Sollte Scholz eine Vertrauensfrage stellen und verlieren, kann Frank-Walter Steinmeier nach Artikel 68 „auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen“. Danach müssen innerhalb von sechzig Tagen Neuwahlen stattfinden. In der Summe gibt es eine Maximalfrist von 81 Tagen. Bei einem Bruch rund um den 29. November käme man höchstens bis zum 16. Februar. Wollte der Kanzler (oder wollten gar alle drei Partner) mit Hamburg-Bonus in Neuwahlen gehen, dürfte Scholz die Vertrauensfrage frühestens unmittelbar vor Weihnachten stellen – wenn er den Prozess nicht bis in den Januar zieht. Ob nun als Ampel oder als Minderheitsregierung.