Ob die Legislatur normal zu Ende geht oder doch früher Neuwahlen eingeläutet werden, kann aktuell nicht einmal der Kanzler sagen. Eines aber hat in Berlin erkennbar längst begonnen: Alle drei Ampelpartner machen für die Koalition nur noch das Notwendige und nicht mehr das Bestmögliche. Wichtiger ist ihnen längst etwas ganz anderes geworden: Sie vermessen die politische Lage und definieren ihren Führungsanspruch in der eigenen Truppe. Dabei lässt sich festhalten, dass die Situation, wie sie sich für Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner noch vor kurzem darstellte, sichtbar verschoben hat. Jeder ringt auf seine Weise um Autorität und inhaltliche Spielräume und versucht beides zu maximieren.
Da ist zuallererst der Kanzler. Lange erschien er moderierend, abwartend, zögerlich. Seit gut zwei Wochen lässt er sich dabei zusehen, wie er die Zügel zunehmend straffer in die Hand nimmt. Lange hatte er sich gegen einen Industriestrompreis gewehrt. Nun unterstützt er ihn. Er hatte die Vermögensteuer nie abgelehnt, jetzt bekennt er sich offensiv zu ihr. Er will die Schuldenbremse reformieren und das Rentenpaket II gegen die FDP-Vorbehalte durchboxen. „Ich werde klar Position beziehen und jeder wird wissen, was gemeint ist“, verriet er seinen Genossen in der vergangenen Woche.
Seine persönliche Bilanz: Diese Koalition habe in den vergangenen drei Jahren viele Details lange verhandelt, „manchmal viel zu lange“. „Er ist sehr erkennbar geworden“, berichteten Teilnehmer von der SPD-Vorstandsklausur des vergangenen Wochenendes, „es herrschte ein Gefühl von Aufbruch“. Auch dass er sich am Dienstag in der Fraktion unmissverständlich zum Sicherheitspaket geäußert hat, für manche nachgerade drohend, belegt: Der Kanzler geht voran, in der demonstrativen Erwartung, dass ihm die Genossen Unterstützung und Beinfreiheit gleichermaßen gewähren.
Nicht viel anders ist die Lage für den Vizekanzler und die Grünen. Habeck ist als Spitzenkandidat eigentlich unangefochten, weil selbst seine Kritiker wissen, dass er die meisten Chancen hat, die Partei aus dem aktuellen Tal zu führen. Endgültig nominiert ist Habeck aber noch nicht; und ein finales „Ich mache das“ hat es von ihm auch noch nicht gegeben. Beides soll erst auf dem Parteitag im November in Wiesbaden geschehen. Bis dahin will und muss er zweierlei schaffen: Erstens definieren, mit welchen Zielen und welchem Habitus er wahlkämpfen will. Und zweitens die neue Parteiführung so aufstellen, dass er für seinen Kurs volle Unterstützung erhält und keine Querschläger fürchten muss.
Habeck will zu seiner Grundbotschaft zurück, die er der Partei als Vorsitzender einst einpflanzte. Er will Gesellschaft und Wirtschaft für Transformation und eine nachhaltige Klimapolitik gewinnen, sie nicht dazu zwingen. Das bedeutet auch, auf anderen Feldern pragmatisch zu agieren und den Leuten zuzuhören. Und das gilt nicht zuletzt für eine Sicherheits- und eine Migrationspolitik, die den gewachsenen Ängsten entspricht und nicht den aus früheren Zeiten stammenden Idealen. Kritik daran, wie aktuell aus der Grünen Jugend, wird kaum dazu führen, dass er klein beigibt. Sehr viel wahrscheinlicher könnte dieses Thema zur Habeck’schen Schlüsselfrage führen: Wollt Ihr mich, wie ich bin – oder wollt Ihr alten Träumen nachhängen? Ein Brief der Basis fordert die Abgeordneten aktuell dazu auf, am Freitag gegen das auch von Habeck unterstützte Sicherheitspaket zu stimmen. Sein Kampf um Autorität ist in vollem Gange.
Und dann ist da auch noch der Bundesfinanzminister. Lindner sitzt seit 2013 fest im Sattel, als er die FDP übernahm und schrittweise zurück an die Macht führte. So gut wie alle in Fraktion und Partei verdanken ihm Posten und Karrieren; deshalb haben sie sich auch lange jede Form von Kritik verkniffen. Nur langsam und vorsichtig zeigen sich ausgerechnet jetzt erste Risse; den sichtbarsten produzierte Johannes Vogel mit seiner harten Haltung zu den SPD-Rentenplänen. Noch aber will Vogel nicht Lindners Autorität antasten, sondern der FDP jenseits von Schuldenbremse und Wirtschaftsförderung mehr Profil verpassen. In Umfragen liegt sie zwischen drei Prozent und nicht mehr messbar. Deshalb geht es nicht um Rebellentum, sondern nur noch um Rettungsversuche.