Analyse
Erscheinungsdatum: 16. Juli 2024

Abschied aus dem Parlament: Warum Abgeordnete nicht mehr weitermachen wollen

Zahlreiche Bundestagsabgeordnete kündigen in diesen Wochen ihren Rücktritt an. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Manche Parlamentarier sind frustriert, viele erschöpft, und nicht wenige sehen einfach eine Chance, noch mal einen neuen Weg zu gehen.

In den Landes- und Bezirksverbänden der Parteien haben die Diskussionen längst begonnen: darüber, wie die Nominierungen und Listen für die Bundestagswahl im kommenden Jahr aussehen sollen. Viele prominente Namen werden darauf nicht mehr zu finden sein. Denn in erstaunlicher hoher Zahl haben Parlamentarier in den vergangenen Wochen angekündigt, sich nach dieser Legislatur aus dem Bundestag zurückzuziehen.

Bei einigen war das erwartbar: Die grüne Ex-Ministerin Renate Künast etwa hat das Renteneintrittsalter bereits erreicht, gleiches gilt für den ehemaligen Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), für Max Straubinger (CSU) oder Kordula Schulz-Asche (Grüne). Paul Lehrieder (CSU), Karamba Diaby (SPD), und Bernd Westphal (SPD), würden es im Laufe der nächsten Legislatur erreichen. Doch hinzu kommen viele, die noch einmal gute Chancen gehabt hätten, in den Bundestag einzuziehen. Nur, sie haben genug vom Parlamentarierdasein und suchen noch einmal eine neue Perspektive – oder haben sie schon. Eine weitere Auffälligkeit: Es sind vor allem Vertreter und Vertreterinnen der Ampel-Fraktionen, die sich zurückziehen.

Besonders auffällig ist der Aderlass in der SPD. Bei den Genossen gehören zu den prominentesten Abgängen der Hamburger BMZ-Staatssekretär Niels Annen oder auch Thomas Hitschler aus der Südpfalz, Staatssekretär im Verteidigungsministerium und 2021 Spitzenmann auf der Landesliste in Rheinland-Pfalz. Annen ist 52, Hitschler 42 Jahre alt. Auch Michael Roth (53), acht Jahre lang Staatsminister im Auswärtigen Amt und zuletzt Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, so hat er schon vor einigen Monaten angekündigt, wird sich nach 26 Jahren im Bundestag ins Hessische zurückziehen. Gleiches gilt für Sönke Rix, 48 Jahre alt, aus Eckernförde und immerhin Fraktionsvize. Zumindest sein Mandat gibt auch Dietmar Nietan (60) aus Düren ab, Schatzmeister seiner Partei und Polen-Beauftragter der Bundesregierung will er vorläufig bleiben. Auch Michelle Müntefering, tritt zur Seite. In ihrem Fall nicht ganz freiwillig, sie wäre gerne Europaabgeordnete geworden, unterlag aber schon bei der Nominierung – und plötzlich war die Bundestagskandidatur im Wahlkreis neu vergeben.

In aller Offenheit begründen die wenigsten ihren Abgang. Oder führen „das Amt auf Zeit“ an, das sie ausgeübt hätten. Dazu gehören die FDP-Abgeordneten Mario Brandenburg, immerhin Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium, Christine Aschenberg-Dugnus oder auch Christoph Hoffmann, Vorsitzender des Entwicklungsausschusses. „Lebenslage Berufspolitik war nie mein Konzept“, sagte etwa Aschenberg-Dugnus dem Tagesspiegel. „Für mich war immer klar: Ich bin Abgeordnete auf Zeit.“ Doch das ist mutmaßlich nur die halbe Wahrheit, erkennbar ist vielmehr: Das Leben als Politiker kostet Kraft wie nie zuvor. Der verloren gegangene Respekt, die Beschimpfungen in den sozialen Medien und am Infostand in der Fußgängerzone, die zeitliche Beanspruchung – all das kostet Energie, die viele nicht mehr aufbringen wollen.

Oder wie es einer der Ausscheidenden sagt: „Das ist mir zu zermürbend. Was in den sozialen Medien eingeschwemmt wird – das macht einfach keinen Spaß mehr. Und mir das noch einmal vier Jahre anzutun, um es nach zwei Jahren zu bereuen, nein, das brauche ich nicht.“ Hinzu kommt: In Fällen wie bei Niels Annen, Michael Roth oder auch Thomas Hitschler ist der Zenit erreicht, ein Ministeramt ist nach Lage der Dinge nicht mehr drin, und sie sind in einem Alter, das noch mal einen Neustart erlaubt.

Offenkundig ist aber auch: Die Kompromissfindung unter den Ampelparteien war und ist zeitraubend. Sie war in den vergangenen zweieinhalb Jahren so kräfte- und nervenzehrend wie in keiner Koalition zuvor. Denn das waren in den 72 Jahren davor immer Zweierbündnisse. Heute geht nichts mehr leicht, nichts wird schnell entschieden. Das produziert Enttäuschungen.

Auch Tabea Rößner, Vorsitzende des Bundestag-Digitalausschusses, argumentiert mit dem Amt auf Zeit. Doch auch bei der ehemaligen Journalistin Rösner schimmert noch ein anderes Argument durch. Offene Debattenräume, „in denen unterschiedliche Auffassungen respektvoll ausgetauscht und nicht zuletzt vernünftig und lösungsorientiert diskutiert werden können, sind unerlässlich“, schrieb sie an die Mitglieder ihres Landesverbandes. Auch Fehleranalysen gehörten zum demokratischen Prozess – „anstelle von Skandalisierung und Pflege politischer Gegnerschaft“. Damit benennt auch Rösner in Ansätzen, was ihr zunehmend missfiel im politischen Getriebe.

Und dann gibt es diejenigen Abgeordneten, vor allem der Opposition, die mit ihrer Ankündigung wirklich überraschen. Zum Beispiel Nadine Schön, CDU. Die 41-jährige Saarländerin ist bereits in ihrer vierten Legislaturperiode. Dreimal wurde sie direkt gewählt. 2021 jedoch verlor sie ihr Direktmandat an Christian Petry (SPD) und schaffte es nur deshalb wieder ins Parlament, weil Annegret Kramp-Karrenbauer und Peter Altmaier zurückzogen.

Nach zwei Legislaturen als Fraktionsvize hätte Schön 2025 mutmaßlich weiter aufsteigen können. Sie gilt nicht als Lautsprecherin, hat sich vielmehr durch solide Arbeit als Digitalexpertin einen Namen gemacht. Ihr Name fiel immer wieder, wenn es um mögliche Ministerposten ging. Zumal die Aussichten für eine Regierungsbeteiligung der CDU im kommenden Jahr derzeit nicht schlecht sind. Diese Perspektiven hätten natürlich eine Rolle gespielt, berichtet Schön: „Ich bin jetzt in der dritten Legislatur Fraktionsvize und für mich war klar, dass ich danach etwas anderes machen will. Ein Wechsel in die Regierung hätte mich auch gereizt.

Trotzdem entschied sie sich für den Ausstieg.„Es muss jetzt ein größerer Schritt, der Schritt raus aus dem Mandat, sein“, sagt sie. Zu Beginn ihrer Abgeordnetenzeit habe sie immer verkündet: „Wenn ich so früh einsteige, gehe ich in diesem Amt nicht in Rente.“ Sie sei jetzt im passenden Alter, um beruflich nochmal etwas Neues anzufangen. Was genau das sein könnte, behält sie noch für sich. Fest steht für Schön aber: „Ich werde auch künftig berufstätig sein.“

Überrascht wurden viele auch von der Rückzugsankündigung von Katja Leikert. Die CDU-Abgeordnete, die eigentlich aus Rheinland-Pfalz stammt, hat seit 2013 dreimal hintereinander das Direktmandat im Wahlkreis Hanau gewonnen. Sie will sich künftig verstärkt ihrer Familie widmen. Diese habe in den vergangenen Jahren „sehr zurückstecken“ müssen, schrieb sie an ihre Fraktionskollegen. Deshalb habe sie sich entschieden, „in der Lebensmitte eine Neuorientierung vorzunehmen“.

Nadine Schön kann den Aspekt der Familienfeindlichkeit vollauf bestätigen. Als Saarländerin ist der Weg für sie nach Berlin besonders weit. „Der Job ist per se nicht familienfreundlich und zeitlich sehr herausfordernd “, sagt sie. In Sitzungswochen verlasse sie montags um 5 Uhr das Haus, wenn die Kinder noch schlafen. „Und wenn ich zurückkomme, stehen am Wochenende Termine im Wahlkreis an.“ Vor allem in der zweiten Jahreshälfte gebe es teils fünf Sitzungswochen innerhalb von sieben Wochen. „Das sind Zeiten, die für die Familie sehr belastend sind.“

Für Claudia Raffelhüschen waren all diese Gründe nicht ausschlaggebend. Die FDP-Politikerin war 2017 überraschend ins Parlament eingezogen. Dass Platz 17 der Landesliste Baden-Württemberg dafür reichen würde, hatte sie selbst nicht erwartet. Er reichte nur, weil ein Kollege sein Mandat nicht annahm. Die Volkswirtin, die mit dem Ökonomen Bernd Raffelhüschen verheiratet ist, ist eine politische Quereinsteigerin. Und schon nach weniger als vier Jahren hat sie genug.

„Der politische Betrieb in Berlin erweist sich als schwerfällig, bürokratisch und teils auch ängstlich “, sagte sie Table.Briefings. „Veränderungen durchzusetzen ist äußerst schwierig; oft fehlt es an Mut und Reformbereitschaft.“ Sie habe 2021 für den Bundestag kandidiert mit dem Ziel, Politik für die junge Generation zu gestalten, das System für sie gerechter zu machen. „Heute, rückblickend, muss ich jedoch feststellen, dass ich mit einem gewissen Maß an Naivität in diese Legislatur gestartet bin “, erklärt sie. Dennoch scheide sie nächstes Jahr „ohne Groll“ aus dem Parlament aus.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!