Mehrere Drohnenvorfälle in den vergangenen Tagen auf russischem Territorium und auf der besetzten Krim nähren den Verdacht, dass die Ukraine zunehmend russische Ziele weit jenseits der Front angreift – auch unweit von Moskau. Neben der ukrainischen Artillerie, die vor allem die russischen Grenzregionen Belgorod, Kursk und Brjansk trifft, werden Drohnenangriffe auch auf Ziele im Landesinneren ausgeführt.
Die im Exil erscheinende russischsprachige Zeitung Novaya Gazeta Europe hat die bekannt gewordenen Vorfälle zusammengetragen:
Insbesondere der Einsatz von Drohnen weit im russischen Landesinneren demonstriert eine neue Entwicklung im Krieg. Der in der Sowjetunion geborene israelische Militäranalyst, David Sharp, sagte in einem Interview vergangene Woche: „Ein Vorteil Russlands zu Beginn des Krieges war sein langer Arm, die Fähigkeit tief im Land des Gegners Schaden anzurichten. Die Ukraine hatte diese Fähigkeiten nur sehr begrenzt.“ Inzwischen habe die Ukraine Drohnen entwickelt und setze sie nun offenbar ein. Auch seien sehr wahrscheinlich unterschiedliche Modelle verwendet worden. „Einige Drohnen haben ihr Ziel erreicht, aber insgesamt sieht man, dass sie noch nicht ausgereift sind.“
Vergangene Woche wurde mit Drohnen ein Öl-Tanklager in Tuapse am Schwarzen Meer (Region Krasnodar) angegriffen, es kam zu einem Brand; eine weitere Drohne stürzte in derselben Region ab; nur etwa 100 Kilometer von Moskau entfernt stürzte eine weitere Drohne ab: Ihr Ziel könnte eine Gasstation von Gazprom gewesen sein oder eine Militärbasis in der Nähe, die ein wichtiger Kommunikationsknotenpunkt der russischen Armee ist. In Brjansk sollen russische Streitkräfte eine Drohne abgeschossen haben; und offenbar wegen einer Drohne wurde sogar der Luftraum über St. Petersburg kurzzeitig geschlossen. Außerdem sprach das russische Verteidigungsministerium von zehn abgeschossenen Drohnen über der Krim. Das alles spielte sich innerhalb kurzer Zeit am 28. Februar und am 1. März ab.
Der mutmaßliche Drohnenangriff auf das russische Luftraumüberwachungsflugzeug A-50 bei Minsk geht laut Berichten von belarussischen Oppositionsmedien auf das Konto lokaler Partisanen.
Noch Anfang Dezember hatte mutmaßlich die Ukraine drei Flugplätze in Russland mit einzelnen Drohnen angegriffen. Keine drei Monate später verfügt die Ukraine offenbar über bessere Fähigkeiten und mehr unbemannte Fluggeräte. Auch auf der Rüstungsmesse IDEX in Abu Dhabi (VAE) hatte die Ukraine vor zwei Wochen selbst entwickelte und im Krieg eingesetzte Drohnen vorgestellt.
„Große Ziele könnten zwar damit nicht angegriffen werden“, sagte Sharp der Novaya Gazeta, „aber schwach gesicherte Objekte eignen sich durchaus. Auch eignen sich die Drohnen, um die Luftverteidigung abzulenken oder die russische Militärführung ernsthaft zu beunruhigen.“
Für Moskau stellen die Drohnenangriffe einerseits ein Problem dar, denn sie zeigen, dass der Krieg auch nach Russland zurückkehren kann. Andererseits spielt das auch dem Regime in die Hände, weil es der Ukraine die Verantwortung zuschreiben und sie als Gefahr für Russland darstellen kann. Inzwischen stehen auf einigen Gebäuden, unter anderem auf dem Dach des Verteidigungsministeriums in Moskau, Luftabwehrgeschütze. Und der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Duma, Andrey Kartapalov, empfahl am vergangenen Samstag russischen Konzernen, eigene Drohnenabwehrsysteme zu kaufen.
Kiew weist die Vorwürfe der Drohnen-Attacken dagegen zurück. Mykhailo Podolyak, persönlicher Berater des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, reagierte via Twitter und schrieb, die Ukraine würde keine Ziele auf russischem Boden angreifen. „Es führt einen Verteidigungskrieg, um alle seine okkupierten Gebiete zu befreien.“ Es handele sich um innerrussische Attacken von nicht identifizierbaren Flugobjekten.
Die Drohnenattacken geschehen, während die westlichen Unterstützerstaaten die Lieferung von Kampfjets oder weitreichender Munition diskutieren. „Zur logistischen Versorgung seiner Truppen an der Frontlinie bedient sich Russland der Eisenbahnverbindungen, Straßen und sonstiger Infrastruktur in den einverleibten Gebieten Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson“, erläutert Ekkehard Brose, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) im Gespräch mit Table.Media.
„Wenn der Westen dabei unterstützen will, den weiteren russischen Vorstoß in ukrainisches Territorium effektiv abzuwehren, so beinhaltet das notwendigerweise auch Waffensysteme, die bis in diese rückwärtigen Gebiete hinter der Front reichen. Kommandozentren, Munitionsdepots und Aufmarschräume können nur so erreicht werden.“ Allerdings sei das politisch nur so lange „unproblematisch, wie militärische Aktionen der ukrainischen Truppen, die sich westlicher Waffensysteme bedienen, nicht auf angrenzendes russisches Staatsgebiet übergreifen“, betont Brose.
Dass dieses Risiko besteht, hat die vergangene Woche gezeigt. Zumindest eine Drohne soll die in der Ukraine entwickelte UJ-22 gewesen sein. Sie flog bis zum Ort Gubastowo südöstlich von Moskau. Nach Angaben des Herstellers hat die Drohne eine Reichweite von 800 Kilometern. Damit wäre die russische Hauptstadt erreichbar.