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Scheuklappen ablegen, Fehler erkennen – und schnell korrigieren

von Stefan Kapferer

Mit einem Anteil von inzwischen deutlich über 50 Prozent Erneuerbare Energien am Stromverbrauch, einem stabilen System und einem CO2-Emissionspfad, der im Hinblick auf 2030 On-Track ist, ist die Energiewende aller Abgesänge zum Trotz eine Erfolgsgeschichte. Es gibt keinen Grund, mit gesenktem Haupt eine Abkehr von der Energiewende einzuleiten.

Was wir brauchen, ist keine Disruption, sondern neue Balance. Dafür müssen alle ihre Scheuklappen ablegen, Fehler erkennen und diese rascher korrigieren als in der Vergangenheit. Es gilt, an den richtigen Stellen Ideologie durch Pragmatismus und lösungsorientiertes Handeln zu ersetzen. Fünf Punkte gehören auf die Agenda, und die neue Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag einige davon bereits adressiert.

1. Versorgungssicherheit gewährleisten

Die Ausschreibung neuer Kraftwerksleistung ist unerlässlich, um den gesetzlich festgeschriebenen Ausstieg aus der Kohleverstromung fortzusetzen. Wir brauchen regelbare Kraftwerksleistung, wenn wir ohne Probleme durch die folgenden Winter kommen wollen. Gaskraftwerke sind derzeit dafür die Technologie der Wahl, natürlich mit der Option des Umstiegs auf Wasserstoffbetrieb zu einem späteren Zeitpunkt. Weil der Energy-Only-Markt keine ausreichenden Investitionsanreize bietet, sollte dies der Einstieg in einen flankierenden Kapazitätsmärkt sein, auf dem das Vorhalten von Erzeugungs-, Speicher- oder Flexibilitätsleistung angereizt wird.

2. System- und Netzstabilität stärker gewichten

In der Vergangenheit kreiste beim Ausbau der Erneuerbaren Energien (fast) alles um die Frage: Wie viel Strom können PV und Wind bis zu welchem Jahr erzeugen? Mit dem Ausscheiden weiterer thermischer Kraftwerke, deren Generatoren als rotierende Massen dem Stromnetz Stabilität verleihen, wird das Gesamtsystem anfälliger. Daher müssen die Erneuerbaren Energien in Zukunft stärker Systemverantwortung übernehmen, zum Beispiel zur Spannungshaltung beitragen. Und ihr weiterer Ausbau muss sich in Zukunft an System- und Netzdienlichkeit orientieren und daher stärker gelenkt werden.

3. Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrie stärken

Die Absenkung der Stromsteuer und ein Bundeszuschuss zu den Netzentgelten können die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrien stärken. Doch jeder Zuschuss für die eine, muss durch eine andere Gruppe kompensiert werden. Dass kann auf Dauer nicht funktionieren. Ich plädiere deshalb dafür die Kosten für die Transformation zuallererst insgesamt zu senken, indem wir mehr Realismus und Pragmatismus walten lassen und weniger kleinteilige Zielvorgaben für die Energiewende umsetzen. Das heißt zum Beispiel: Freileitung statt Erdkabel, wo immer das möglich ist. Und die Fertigstellung milliardenschwerer Großprojekte staffeln, damit es bei Ausschreibungen für Material wieder einen echten Bieterwettbewerb gibt.

4. Synchronität herstellen

Der Preisverfall bei Modulen sowie die Anreize der Ampel-Regierung haben zu einem Boom an neuen Photovoltaikanlagen geführt. Über 16 GW wurden 2024 auf Gebäudedächern und Freiflächen installiert. Demgegenüber entwickelte sich der Ausbau der Windenergie zu langsam. Beide Technologien hängen jedoch zusammen, können sich aufgrund ihrer Erzeugungsprofile im Jahresverlauf ergänzen. Weil die PV-Erzeugungsspitzen immer schwerer marktlich und physikalisch in das europäische Stromverbundnetz zu integrieren sind, muss der Ausbau der Photovoltaik entschleunigt und mit dem Ausbau der Windkraft, der Übertragungs- und Verteilnetze sowie der flexiblen Lasten (Speicher, Elektrolyseure) synchronisiert werden. Das sehr kurzfristig beschlossene Solarspitzengesetz kann nur der Anfang vom Ende des Prinzips „Produce and forget“ sein. Und bevor jemand vom Verfehlen der Klimaziele im Stromsektor spricht: Da der Stromverbrauch deutlich langsamer wächst, droht hier keine Gefahr.

5. Mehr europäische Vernetzung

Das energiepolitische Zieldreieck aus Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Klimaneutralität ist nur über eine enge europäische Kooperation zu realisieren. Gut ausgebaute grenzüberschreitende Stromverbindungen und funktionierende Märkte sind dafür die Voraussetzung. Dabei gibt es noch viel gesetzlich zu regeln, insbesondere bei der Zusammenarbeit im Bereich Offshore-Windenergie. Das volle Potenzial von Nord- und Ostsee lässt sich nur erschließen, wenn Windparks und Stromleitungen zu hybriden Interkonnektoren verbunden werden. Dabei darf die Frage, in welchen Hoheitsgewässern ein Windpark steht und in welches EU-Land er seinen Strom liefert, nicht zum Hindernis werden. Dafür braucht es auf europäischer Ebene und in den Nationalstaaten einen klaren Regulierungsrahmen mit verlässlichen Investitionsbedingungen.

Autor: Stefan Kapferer ist Vorsitzender der Geschäftsführung von 50Hertz.

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