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Ausreguliert – warum die stationäre Pflege einen Neuanfang braucht

von Daniel Veldensteyn

Zum Start der Koalitionsverhandlungen hat sich die sonst traditionellerweise gar nicht gut organisierte „Pflegelobby“ dazu durchgerungen, ein gemeinsames Papier an die zuständige Arbeitsgruppe unter Leitung von NRW Minister Laumann zu senden. Man kann das nur als sicheres Zeichen dafür werten, dass vielen Einrichtungen landauf landab das Wasser bis zum Hals steht. Ansonsten halten die Verbände gerne Distanz.

Personalmangel wäre der erste Gedanke beim Thema Pflegenotstand. Doch darum ging es gar nicht. Vom bpa, der die knapp 50 % privat-gewerblichen Einrichtungen vertritt, über AWO, Rotes Kreuz bis hin zu Diakonie und Caritas wünschten sich alle einen einzigen Satz im Koalitionsvertrag:

„Um die pflegerische Versorgungssicherheit und die wirtschaftliche Sicherheit der Einrichtungen und Dienste zu gewährleisten, werden wir Pflegesatz- und Vergütungsverhandlungen vereinfachen und beschleunigen.“

Was haben Vergütungsverhandlungen mit Versorgungssicherheit zu tun? Man muss verstehen, woher dieser gemeinsame Aufschrei kommt: Die Pflegepolitik hat in den vergangenen Jahrzehnten die Anforderungen, die Standards, die Vorgaben für einfach alles – von der Größe der Badezimmer über die Pflegedokumentation bis hin zu den Personalvorgaben und der Vergütung des Pflegepersonals immer weiter reguliert und dabei natürlich „verbessert“. Also verteuert.

Und da ein Heimbewohner in Hessen komplett andere Bedarfe hat als im Saarland (!), variieren diese Vorgaben von Bundesland zu Bundesland, manchmal um Zentimeter, manchmal um Bezeichnungen oder um vorgeschriebene Köpfe. Pandemie und Inflation haben das ihre dazu getan. Die Kosten explodierten, die Erlöse hielten nicht mit, alle Systembeteiligten der 13.000 Pflegeheime kamen ins Schlingern. Die Sprünge waren zu groß und zu kurzfristig.

Die föderal zersplitterte Komplexität führt das System an seine Grenzen. Gut sichtbar auch in den allseits beklagten Zahlungsrückständen der Sozialämter: Antragsflut und Personalmangel führen zum Verwaltungsinfarkt. Die Pflegeunternehmen, sonst eher nicht mit Zahlungsausfällen konfrontiert, kämpfen mit der Liquiditätskrise, wenn Rechnungen bis zu neun Monate offen bleiben, bevor die Sozialhilfe endlich ihren Bescheid schickt und zahlt.

Letztlich sind also die Kostenträger genauso überfordert wie die Einrichtungen und die Pflegebedürftigen selbst, die nach verzweifelter Platzsuche auf die konstante Preisschraube mit einem Antrag auf Sozialhilfe reagieren. Oder irgendwann „Alternativen“ suchen. Aber die Politik reguliert munter weiter.

So erklärt sich auch, dass die Anzahl der im Pflegeheim versorgten Menschen stagniert, während sich die Zahl der Pflegebedürftigen in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat. So haben wir vielleicht die besten Pflegeheime der Welt, aber bald nur noch auf dem Papier. Zum einen gibt es demografiebedingt nicht mehr genug Menschen, um die erfindungsreichen Personalschlüssel zu erfüllen. Die Plätze bleiben leer. Gleichzeitig werden zunehmend auch schwer pflegebedürftige Menschen zuhause bleiben, wo es gar keine Vorgaben und gar keine Aufsicht und auch keine Tariftreue für die 24-Stunden-Kräfte gibt. Dass lokale Heimaufsichtsbehörden, die hier das „Ordnungsrecht“ exekutieren, auch noch ihre jeweils eigenen Maßstäbe anlegen dürfen, fühlt sich angesichts der sich abzeichnenden Versorgungskrise an wie bester deutscher Amtsschimmel.

Als junges Pflegeunternehmen sind wir unseren eigenen Weg gegangen – heraus aus der „Regulationsfalle“ Pflegheim. In den zehn newcare parcs gibt es keine „vollstationäre Pflege“ mehr. Und es sollen mehr werden. Wir kombinieren seniorengerechtes Wohnen mit ambulanter Versorgung, Tagespflege und Wohngemeinschaften und schaffen so komplett individuelle Versorgungsettings. Wir sind überzeugt, das Konzept ist für alle Beteiligten passgenauer, innovativer und wirtschaftlich sinnvoll.

Um auf den Anfang zurückzukommen: Natürlich stand der gewünschte Satz nicht im Koalitionsvertrag. Und natürlich ist kein einziger Trägervertreter bei der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die es jetzt richten soll. Unser Vorschlag: Erwägt einen Neuanfang. Befreit euch von diesem ausregulierten System „stationäre Pflege“. Weniger Regulation, weniger Komplexität ist definitiv mehr. Mehr Vertrauen, mehr Entscheidungsfreiheit für Pflegebedürftige, mehr Unternehmergeist, mehr Gestaltungsfreiheit für die Pflegekräfte, mehr Einsatz personalentlastender Technologie. Kurz: Mehr echte Versorgungssicherheit statt die Scheinsicherheit eines ständig wachsenden Verwaltungs- und Kontroll- Apparats. Funktionierende Alternativen gibt es!

Autor: Daniel Veldensteyn ist Co-CEO des Pflegeunternehmens newcare.

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